Bundesverwaltungsgericht

BVerwG, Beschluss vom 10. 9. 2012 – 5 B 32.12; VGH Baden-Württemberg (lexetius.com/2012,4174)

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 10. September 2012 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Fleuß beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 7. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 5 648,06 € festgesetzt.
[1] Gründe: Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg. Die Revision ist weder wegen eines Verfahrensfehlers gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO noch wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
[2] 1. Ohne Erfolg rügt die Beschwerde als verfahrensfehlerhaft, die Würdigung des Berufungsgerichts, der Entschädigungsanspruch sei nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs wegen mangelnder Ernsthaftigkeit der Bewerbung ausgeschlossen, beruhe auf aktenwidrigen Feststellungen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
[3] Mit der Rüge einer fehlerhaften Verwertung des dem Gericht vorliegenden Tatsachenmaterials wird zunächst nur ein – angeblicher – Fehler in der Sachverhaltswürdigung angesprochen. Ein solcher Fehler ist revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und kann deshalb einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen (vgl. Beschlüsse vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f. und vom 3. Dezember 2008 – BVerwG 4 BN 26.08 – juris). Eine Ausnahme hiervon kommt unter anderem bei einer aktenwidrigen Sachverhaltsfeststellung in Betracht (stRspr, vgl. Beschluss vom 28. März 2012 – BVerwG 8 B 76.11ZOV 2012, 160 f. m. w. N.).
[4] Tatsächliche Feststellungen sind aktenwidrig, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein Widerspruch besteht. Dieser Widerspruch muss offensichtlich sein, so dass es einer weiteren Beweiserhebung zur Klärung des richtigen Sachverhalts nicht bedarf. Die Aktenteile, die das Tatsachengericht nach Ansicht der Beschwerde nicht oder fehlerhaft berücksichtigt haben soll, sind genau zu bezeichnen. Darüber hinaus ist darzulegen, welche Schlussfolgerung sich dem Tatsachengericht, ausgehend von dessen materiell-rechtlicher Auffassung, aufgrund dieser Tatsachen hätte aufdrängen müssen (Beschlüsse vom 23. Dezember 2011 – BVerwG 5 B 24.11ZOV 2012, 98, vom 6. April 2009 – BVerwG 6 B 73.08 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 60 S. 24 f., vom 17. September 2002 – BVerwG 9 B 43.02 – Buchholz 406. 11 § 133 BauGB Nr. 133 und vom 19. November 1997 – BVerwG 4 B 182.97 – Buchholz 406. 11 § 153 BauGB Nr. 1 m. w. N.). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
[5] Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, dass die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe sich "grundsätzlich bemüht (…), jedes ihm angetragene Vorstellungsgespräch wahrzunehmen oder sich – sofern ihm dies etwa wegen gleichzeitig stattfindender anderer Vorstellungsgespräche oder wegen Krankheit nicht möglich war – um einen Ersatztermin nachzusuchen" (UA S. 25), in offensichtlichem Widerspruch zum Inhalt der Akten stehe (S. 5 der Beschwerdebegründungsschrift). Dass die Würdigung des Berufungsgerichts erkennbar an durch E-Mail-Verkehr zumindest teilweise belegte Ausführungen des Klägers im erstinstanzlichen Verfahren anknüpft (Anlagen K 11 bis K 16 zum Schriftsatz seines damaligen Prozessbevollmächtigten vom 13. September 2009 sowie Anlagen zum Schreiben des Klägers vom 23. September 2010), bleibt außer Betracht.
[6] Ein offensichtlicher Widerspruch zu dem Inhalt der Akten wird auch nicht insoweit substanziiert dargetan, als die Beschwerde im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers, "er habe immer eine Beamtenstelle und nicht nur ein Angestelltenverhältnis angestrebt und bevorzuge räumlich eindeutig eine Beschäftigung in Baden-Württemberg" (UA S. 25), die Frage aufwirft, "welchen 'plausiblen Vortrag' des Klägers der Verwaltungsgerichtshof in Bezug [nehme]" (S. 5 der Beschwerdebegründungsschrift). Hierbei bleibt das diesbezügliche Vorbringen in der Klageschrift vom 2. Juni 2010 (Bl. 5 BA I) unberücksichtigt. Dass die Beklagte dieses für unglaubhaft hält, vermag eine Aktenwidrigkeit der Sachverhaltswürdigung des Berufungsgerichts nicht zu begründen.
[7] Die Aktenwidrigkeit der Feststellungen wird auch nicht dadurch schlüssig dargetan, dass die Beschwerde dem Berufungsgericht vorhält, es hätte bei einer kritischen Prüfung der Einlassungen des Klägers nicht unterstellen dürfen, dieser habe nachvollziehbar dargelegt, warum er die Vorstellungsgespräche abgesagt habe, es hätte sich dem Gericht vielmehr aufdrängen müssen, dass sich bei dem Kläger innerhalb von sechs Tagen kein genereller Sinneswandel habe einstellen können. Allein der Umstand, dass die Beschwerde das Bestehen der ernstlichen Möglichkeit eines anders gestalteten Geschehens beziehungsweise einer zu weiteren Fragen Anlass gebenden Sachverhaltskonstellation bezeichnet, zeigt noch keinen offensichtlichen, "zweifelsfreien" Widerspruch zwischen den Annahmen des Tatsachengerichts und der Aktenlage auf. Dies gilt umso mehr, als der unstreitige Akteninhalt, dem zufolge sich der Kläger am 31. Dezember 2009 bei der Beklagten beworben hat und am 5. Januar 2010 ein Vorstellungsgespräch bei einem baden-württembergischen Landkreis im Hinblick auf die bevorstehende Aufnahme des Beschäftigungsverhältnisses bei einer bayerischen Gemeinde abgesagt hat, zwar die Folgerung rechtfertigt, dass die Bewerbung bei der Beklagten in Wahrheit auf die Schaffung der Voraussetzungen für eine Entschädigungsleistung abzielte (S. 6 f. der Beschwerdebegründungsschrift), dieser Schluss indes nicht zwingend ist.
[8] Mit der Rüge, das Berufungsgericht habe entgegen seiner Verpflichtung aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht ernstlich erwogen, dass der Kläger die weiteren Bewerbungen ebenso wie die Absagen der Vorstellungsgespräche lediglich im Hinblick auf die gewünschte beziehungsweise nicht mehr zu realisierende Entschädigung vorgenommen habe, wendet sich die Beschwerde gegen die von ihr für falsch befundene Feststellung und Würdigung des entscheidungserheblichen Sachverhalts durch das Berufungsgericht, ohne jedoch hiermit einen im Rahmen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beachtlichen Verfahrensfehler darzulegen.
[9] 2. Die Zulassung der Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der angesprochenen Rechtsfragen geboten (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Eine ausreichende Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Frage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 – BVerwG 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90 [91] = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18 S. 21 f. und vom 2. Februar 2011 – BVerwG 6 B 37.10 – Buchholz 421. 2 Hochschulrecht Nr. 173). Diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht.
[10] Die Beklagte hält es für grundsätzlich klärungsbedürftig,
- ob "trotz des Vorliegens der geforderten fachlichen Abschlüsse die Einladung eines schwerbehinderten Menschen nach § 82 Abs. 3 SGB IX wegen offensichtlichen Fehlens der fachlichen Eignung entbehrlich sein kann, wenn zusätzlich bekannt gewordene Umstände eine Untauglichkeit zur Wahrnehmung der ausgeschriebenen Stelle ergeben",
- "ob es auch eine offensichtliche Ungeeignetheit bei einem weit gefassten Auswahlprofil geben kann, weil sich aus den Bewerbungsunterlagen und den ggf. zusätzlich bekannt gewordenen Umständen eine offensichtliche Ungeeignetheit aufdrängt", und
- "[a] b wann bei einem Anforderungsprofil der Rückgriff auf weitere Erkenntnisse wegen des Diskriminierungsverbots trotz mangelnder Ausdifferenzierung (…) verwehrt ist".
[11] Damit zeigt die Beschwerde keinen fallübergreifenden und im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Klärungsbedarf auf. Es ist in der Rechtsprechung des Senats bereits geklärt, dass abgesehen von hier nicht entscheidungserheblichen Konstellationen einer aus Rechtsgründen ausgeschlossenen fachlichen Eignung (vgl. dazu Urteil vom 15. Dezember 2011 – BVerwG 2 A 13.10NVwZ-RR 2012, 320) die Frage einer offensichtlichen fachlichen Ungeeignetheit auf der Grundlage eines Vergleichs zwischen dem vom Arbeitgeber aufgestellten Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle und dem Leistungsprofil des Bewerbes zu beurteilen ist. Dabei muss der öffentliche Arbeitgeber das fachliche Anforderungsprofil vor Beginn des Auswahlverfahrens dokumentieren, damit die Gründe für seine Entscheidung transparent sind und die Entscheidung nach den Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG überprüft werden kann. Ohne Dokumentation wäre es dem öffentlichen Arbeitgeber ansonsten in nahezu jedem Fall möglich, Eignungsmerkmale nachzuschieben, die das Absehen von der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch rechtfertigen (Urteil vom 3. März 2011 – BVerwG 5 C 16.10BVerwGE 139, 135 = Buchholz 436. 62 § 82 SGB IX Nr. 1, jeweils Rn. 21 ff.). Daher kann das Fehlen "ungeschriebener" fachlicher Fähigkeiten auch nicht das Urteil einer offensichtlichen fachlichen Ungeeignetheit begründen und die unterbliebene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nicht rechfertigen. Dessen ungeachtet würde sich die Frage einer mangelnden persönlichen Eignung wegen fehlender "Leitungstauglichkeit" im vorliegenden Fall nicht stellen, weil eine diesbezügliche Untauglichkeit des Klägers nach den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht belegt ist.
[12] 3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
[13] 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.