Bundesgerichtshof
ZPO § 321
Wird bei der Verkündung eines Urteils in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen worden ist, versehentlich ein von einer Partei geltend gemachter Haupt- oder Nebenanspruch übergangen, kann dieser Mangel nicht durch eine Protokollberichtigung nach § 164 ZPO, sondern nur im Wege einer Urteilsergänzung gemäß § 321 ZPO behoben werden.
BGH, Urteil vom 24. 9. 2013 – I ZR 133/12; OLG Hamm (lexetius.com/2013,5738)
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 24. September 2013 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Dr. h. c. Bornkamm und die Richter Pokrant, Prof. Dr. Büscher, Prof. Dr. Schaffert und Dr. Koch für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 29. März 2012 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht der Klägerin in der mit Gründen versehenen Urteilsfassung einen Zahlungsanspruch in Höhe von 3.587,60 € nebst Zinsen zuerkannt hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens und der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Für das Revisionsverfahren werden keine Gerichtskosten erhoben.
[1] Tatbestand: Die Klägerin ist eine aus Rechtsanwälten bestehende Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Der Beklagte ist ebenfalls als Rechtsanwalt tätig. Beide Parteien beraten unter anderem Unternehmen in rechtlichen Fragen ihres Internetauftritts und des Fernabsatzes.
[2] Der Beklagte bewarb unter der Internet-Adresse "" seine Dienstleistung, Unternehmen vor Abmahnungen zu schützen und deren Internetauftritte "abmahnsicher" zu gestalten. Einzelne der dort enthaltenen Werbeaussagen wurden von der Klägerin als wettbewerbswidrig beanstandet und von ihr deswegen mit Schreiben vom 17. September 2010 abgemahnt.
[3] Darüber hinaus beanstandete die Klägerin drei Werbeschreiben des Beklagten, die dieser an potentielle Mandanten versandt hatte. Auch insoweit mahnte sie den Beklagten jeweils ab, und zwar mit Schreiben vom 28. April, 25. Mai und 23. August 2010.
[4] Die Klägerin hat den Beklagten wegen der Werbeaussagen unter seiner Internet-Adresse "…" auf Unterlassung und Auskunftserteilung in Anspruch genommen. Darüber hinaus hat sie Zahlung von Aufwendungsersatz für vier Abmahnschreiben sowie für die Aufforderung zur Abgabe von Abschlusserklärungen nach vorangegangenen einstweiligen Verfügungen gegen den Beklagten begehrt. Der Beklagte ist dem Zahlungsverlangen der Klägerin entgegengetreten. Soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung, hat die Klägerin beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin Aufwendungsersatz in Höhe von 3.587,60 € zuzüglich Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 4. November 2010 zu zahlen.
[5] Das Landgericht hat die geltend gemachten Unterlassungsansprüche ganz überwiegend für begründet erachtet und dem Auskunftsanspruch in vollem Umfang stattgegeben. Das Zahlungsverlangen der Klägerin hat das Landgericht abgewiesen. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Am Schluss der Sitzung vom 29. März 2012 hat das Berufungsgericht in Abwesenheit der Parteien folgenden Urteilstenor verkündet:
"Die Berufung des Beklagten gegen das am 18. August 2011 verkündete Urteil der III. Kammer für Handelssachen – 16. Zivilkammer – des Landgerichts Dortmund wird zurückgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin wird das vorgenannte Urteil teilweise abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr wie aus Anlage K 2b ersichtlich auf die Frage hin 'Haben Sie schon Massenabmahner erfolgreich entlarvt? Und was ist passiert?' wie folgt zu werben: 'Ja wir … haben bewirkt, dass Anwaltskanzleien (Massenabmahner) den Geschädigten (Abmahnopfer) sämtliche Kosten und Gebühren zurückerstatten mussten!'.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar."
[6] Auf einen Hinweis der Klägerin vom 1. April 2012, dass ein Ausspruch hinsichtlich des Zahlungsantrags unterblieben sei, hat der Vorsitzende des Berufungssenats den Parteien durch Verfügung vom 16. April 2012 mitgeteilt, dass aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen bei der Abfassung des Tenors der Zahlungsanspruch versehentlich nicht berücksichtigt worden sei, weshalb das Gericht beabsichtige, das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 29. März 2012 zu berichtigen und in den Tenor den Ausspruch über den Zahlungsantrag mit einem reduzierten Zinssatz einzufügen. Der Beklagte hat einer Protokollberichtigung widersprochen. Durch Vermerk vom 14. Mai 2012, den der Vorsitzende des Berufungssenats und die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben haben, hat das Berufungsgericht das Protokoll der mündlichen Verhandlung – wie angekündigt – abgeändert. Das mit Gründen versehene Urteil ist den Parteien mit einem Tenor zugestellt worden, der die Verurteilung des Beklagten enthält, an die Klägerin Aufwendungsersatz in Höhe von 3.587,60 € nebst Zinsen zu zahlen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen.
[7] Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat der Senat die Revision insoweit zugelassen, als das Berufungsgericht der Klägerin in dem den Parteien zugestellten Urteil gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von Aufwendungsersatz in Höhe von 3.587,60 € nebst Zinsen zuerkannt hat. Mit der Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, erstrebt der Beklagte die Abweisung des geltend gemachten Zahlungsverlangens.
[8] Entscheidungsgründe: I. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Klägerin stehe gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 UWG ein Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten in der geltend gemachten Höhe zu, weil die Abmahnungen nicht nur berechtigt, sondern auch zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich gewesen seien. Es habe sich in allen Fällen um nicht einfach gelagerte und zweifelsfreie Sachverhalte gehandelt. Dies ergebe sich vor allem daraus, dass der Beklagte sich gegen alle Vorwürfe mit beachtlichen Argumenten zur Wehr gesetzt und auch noch im laufenden Verfahren daran festgehalten habe, dass die von ihm aufgestellten Behauptungen nicht unlauter seien. Unter solchen Umständen stehe auch einer aus Rechtsanwälten bestehenden Gesellschaft ein Aufwendungsersatzanspruch zu.
[9] II. Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt im Umfang der Zulassung zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
[10] Die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Abmahnkosten, wie sie im abgeänderten Protokoll und im mit Gründen versehenen und an die Parteien zugestellten Urteil zum Ausdruck kommt, ist verfahrensfehlerhaft erfolgt. Es fehlt insoweit an einer wirksamen Verkündung im Sinne der §§ 310, 311 ZPO.
[11] Das Berufungsverfahren ist in diesem Umfang noch nicht abgeschlossen, weil das Berufungsgericht über die Berufung der Klägerin im Hinblick auf den geltend gemachten Zahlungsanspruch bislang nicht entschieden hat.
[12] 1. Ein Urteil wird erst durch seine förmliche Verlautbarung mit allen prozessualen und materiell-rechtlichen Wirkungen existent. Vorher liegt nur ein allenfalls den Rechtsschein eines Urteils erzeugender – Entscheidungsentwurf vor (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 1954 – GSZ 3/54, BGHZ 14, 39, 44; Urteil vom 12. März 2004 – V ZR 37/03, NJW 2004, 2019, 2020; Beschluss vom 8. Februar 2012 – XII ZB 165/11, NJW 2012, 1591 Rn. 11). Die Verlautbarung eines Urteils erfolgt grundsätzlich öffentlich im Anschluss an die mündliche Verhandlung oder in einem hierfür anberaumten Termin durch das Verlesen der Urteilsformel (§ 310 Abs. 1 Satz 1, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehen Verkündungsmängel dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde, so dass von einer Verlautbarung im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden kann. Sind die Mindestanforderungen gewahrt, hindern selbst Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils grundsätzlich nicht (vgl. BGH, NJW 2004, 2019, 2020; NJW 2012, 1591 Rn. 13 mwN).
[13] Zu den Mindestanforderungen gehört, dass die Verlautbarung von dem Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden werden durfte und die Parteien von Erlass und Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet wurden (BGH, NJW 2004, 2019, 2020; NJW 2012, 1519 Rn. 13 mwN). Darüber hinaus setzt eine wirksame Verkündung voraus, dass die Verlautbarung eindeutig und mit hinreichender Bestimmtheit erfolgt ist. Etwaige Berichtigungen oder Ergänzungen einer einmal verlautbarten Urteilsformel müssen nach dem jeweils dafür vorgesehenen Verfahren vorgenommen werden.
[14] 2. Nach diesen Grundsätzen kann im vorliegenden Fall keine wirksame Verlautbarung in Bezug auf den Zahlungsausspruch angenommen werden, weil das Berufungsgericht die Verfahrensvorschriften über die Urteilsergänzung gemäß § 321 ZPO nicht gewahrt hat.
[15] a) Die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Abmahnkosten ist nicht, wie dies gemäß § 310 Abs. 1 Satz 1, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG vorgeschrieben ist, öffentlich im Anschluss an die mündliche Verhandlung durch das Verlesen der Urteilsformel verkündet worden.
[16] b) Die erforderliche Verlautbarung ist auch nicht durch Zustellung der vom Berufungsgericht nachträglich abgeänderten Fassung des Urteilstenors wirksam erfolgt, weil diese Abänderung ihrerseits verfahrensfehlerhaft war.
[17] aa) Die vom Berufungsgericht im Wege einer Protokollberichtigung vorgenommene Ergänzung des am Schluss der Sitzung vom 29. März 2012 verlesenen Urteilstenors war unwirksam, weil sie nicht nach dem dafür vorgesehenen Verfahren gemäß § 321 ZPO vorgenommen wurde.
[18] (1) Nach § 164 Abs. 1 ZPO können nur Unrichtigkeiten des Protokolls jederzeit berichtigt werden. Das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 29. März 2012 war jedoch nicht unrichtig. Wie sich der Verfügung des Vorsitzenden des Berufungssenats vom 16. April 2012 entnehmen lässt, ist "aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen versäumt worden, bei der Abfassung des Tenors den Zahlungsanspruch zu berücksichtigen". Damit ist die Fassung des Urteilstenors gemäß dem ursprünglichen Sitzungsprotokoll vom 29. März 2012 – also ohne Ausspruch über den geltend gemachten Zahlungsantrag – richtig. Eine dem tatsächlich verkündeten Inhalt widersprechende Berichtigung des Urteilstenors kommt nach § 164 Abs. 1 ZPO nicht in Betracht. Zweck des Protokolls ist es, die in § 160 ZPO genannten Förmlichkeiten im Hinblick auf Inhalt und Gang der mündlichen Verhandlung – darunter auch die Verkündung eines Urteils (§ 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO) – zu beurkunden. Insofern genießt das Protokoll gemäß § 165 ZPO öffentlichen Glauben. Auch bei Beachtung der Ordnungsvorschriften über die Protokollberichtigung (§ 164 Abs. 3 ZPO) hätte danach keine wirksame Ergänzung des am Schluss der Sitzung vom 29. März 2012 verkündeten Urteilstenors im Wege einer Protokollberichtigung vorgenommen werden können.
[19] (2) Die erforderliche Ergänzung des Urteils hätte vielmehr im Wege einer Urteilsergänzung gemäß § 321 ZPO erfolgen müssen. Auf den fristgerechten Antrag der Klägerin im Schriftsatz vom 1. April 2012 hätte das Berufungsgericht Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumen, über den übergangenen Zahlungsantrag verhandeln und diesen bescheiden müssen (§ 321 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Mit der Ladung zum Verhandlungstermin hätte dem Beklagten der den Antrag enthaltende Schriftsatz der Klägerin vom 1. April 2012 zugestellt werden müssen (§ 321 Abs. 3 Satz 2 ZPO).
[20] bb) Der Mangel der Verkündung einer Entscheidung über den Zahlungsantrag ist nicht durch Zustellung des verfahrensfehlerhaft abgeänderten Urteilstenors in der mit Gründen versehenen Fassung des Urteils geheilt worden.
[21] In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, dass es mit dem Wesen der Verkündung nicht unvereinbar ist, wenn ein Urteil statt durch Verkündung in öffentlicher Sitzung durch Zustellung verkündet wird, weil darin lediglich ein auf die Wahl der Verlautbarung beschränkter Verfahrensfehler liegt (vgl. BGH, NJW 2004, 2019, 2020). Im vorliegenden Fall hat sich das Berufungsgericht jedoch für eine bestimmte Form der Verkündung entschieden und die Urteilsformel in öffentlicher Sitzung verlesen. In dieser Verfahrenssituation konnte es die Verlautbarung eines versehentlich übergangenen Ausspruchs nicht durch Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils nachholen.
[22] Mit dem Wesen der Verkündung ist es unvereinbar, die einmal verlautbarte Urteilsformel durch Zustellung einer unwirksam berichtigten Fassung des Urteilstenors zu ergänzen, weil auf diese Weise zwei einander widersprechende Urteilsformeln in Umlauf gesetzt werden. Eine Urteilsergänzung kann allein im Verfahren gemäß § 321 ZPO erfolgen.
[24] Der Beklagte hat einer bloßen Protokollberichtigung ausdrücklich widersprochen und damit nicht auf die Einhaltung der Vorschrift des § 321 ZPO verzichtet.
[25] 3. Die Verurteilung beruht auf der Verletzung von Verfahrensvorschriften (§§ 321, 563 Abs. 1 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Beachtung der Regelungen über die Urteilsergänzung gemäß § 321 ZPO nach wiedereröffneter mündlicher Verhandlung in Bezug auf den Zahlungsantrag nicht zum Nachteil des Beklagten erkannt hätte.
[26] III. Das Berufungsurteil ist daher im Umfang der Verurteilung zur Zahlung von Aufwendungsersatz aufzuheben. Insoweit ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens und der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1, § 562 Abs. 2 ZPO.