Senatsentscheidung zur räumlichen Beschränkung der Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber

BVerfG, Mitteilung vom 4. 6. 1997 – 48/97 (lexetius.com/1997,581)

[1] Der Zweite Senat des BVerfG hat auf eine gerichtliche Vorlage einstimmig entschieden, daß Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes alter Fassung (AsylVfG a. F.) über die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber und über die Strafbarkeit ihrer wiederholten Übertretung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
[2] I. Das AsylVfG a. F. von 1991 enthielt Regelungen über die Aufenthaltsgestattung und die räumliche Beschränkung des Aufenthalts für Asylantragsteller. Für Zuwiderhandlungen gegen die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung enthielt das Gesetz Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände.
[3] Die maßgeblichen Vorschriften lauteten auszugsweise:
[4] § 19. Aufenthalt. (1) Einem Ausländer, der Asylantrag gestellt hat, ist zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes nach Maßgabe der Vorschriften dieses Abschnitts gestattet. (2) bis (5) …
[5] § 20. Aufenthaltsgestattung. (1) Ausländern, die einen Asylantrag gestellt haben, ist der Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes beschränkt auf den Bezirk der Ausländerbehörde gestattet. … (2) bis (6) …
[6] § 34. Straftaten. (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. … 2. … 3. eine Zuwiderhandlung gegen a) eine Aufenthaltsbeschränkung nach § 20 Abs. 1 S. 1 oder eine Aufenthaltsbeschränkung aufgrund einer vollziehbaren Anordnung nach § 20 Abs. 1 S. 2 oder 3, jeweils auch nach Maßgabe einer Rechtsverordnung nach § 25 Abs. 6 oder einer Erlaubnis nach § 25 Abs. 5, oder … wiederholt; 4. … 5. …
[7] Regelungen, die mit den genannten Vorschriften im wesentlichen übereinstimmen, enthält auch das Asylverfahrensgesetz in seiner gegenwärtig geltenden Fassung vom 27. Juli 1993.
[8] II. Ein 1972 geborener afghanischer Staatsangehöriger reiste 1990 in die Bundesrepublik ein und beantragte Asyl. Nach ablehnendem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) verpflichtete das Verwaltungsgericht das Bundesamt zur Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses im Sinne des Ausländergesetzes.
[9] Der Antragsteller hält sich aufgrund einer Duldung weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland auf.
[10] Die Ausländerbehörde hatte dem Asylbewerber Bescheinigungen über die auf das Gebiet eines Landkreises beschränkte Aufenthaltsgestattung ausgestellt. Gegen diese räumliche Beschränkung verstieß der Asylbewerber mehrfach. In einem Fall wurde er deshalb jugendrichterlich ermahnt und mußte gemeinnützige Arbeit verrichten, in den anderen Fällen sah die Staatsanwaltschaft von einer Strafverfolgung ab bzw. stellte das Verfahren ein. Wegen eines weiteren Verstoßes im Dezember 1991 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Das Amtsgericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG u. a. die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob die §§ 20 Abs. 1 S. 1 und 34 Abs. 1 Nr. 3a AsylVfG a. F. gegen das Grundgesetz, insbesondere Art. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 (freie Entfaltung der Persönlichkeit) sowie Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Recht auf Freiheit der Person) verstoßen.
[11] III. Nach Auffassung des Zweiten Senats waren die genannten Vorschriften offensichtlich mit dem Grundgesetz vereinbar.
[12] 1. Ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG lag nicht vor. Dieses Grundrecht schützt die tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit, umfaßt jedoch nicht die Befugnis, sich unbegrenzt überall aufhalten und überall hin bewegen zu dürfen.
[13] 2. Die zur Prüfung vorgelegten Vorschriften des AsylVfG a. F. waren auch mit Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar.
[14] Sie gehörten zu einem Bündel von Maßnahmen, mit denen der Gesetzgeber auf das Ansteigen der Asylbewerberzahlen seit Mitte der 70er Jahre reagiert hat. Der Gesetzgeber hat ohne Überschreitung des ihm insoweit eingeräumten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums § 20 Abs. 1 S. 1 AsylVfG a. F. zur Erreichung der damit verfolgten Gemeinwohlbelange – gleichmäßige Verteilung der mit der Aufnahme von Asylbewerbern verbundenen Aufgaben auf die Länder und Kommunen, jederzeitige Erreichbarkeit des Asylantragstellers für die Zwecke seines Verfahrens und dessen beschleunigte Durchführung – für geeignet und erforderlich gehalten. Der Senat führt aus, daß diese Zwecke sich nicht durch mildere Mittel ebenso wirksam hätten erreichen lassen.
[15] Im Zusammenhang mit den in § 25 AsylVfG a. F. enthaltenen Regelungen über ein vorübergehendes Verlassen des zugewiesenen Aufenthaltsortes hat die Bestimmung auch die Grenzen des Übermaßverbots gewahrt. § 25 Abs. 1 AsylVfG a. F. sah insoweit eine Milderung der strikten Aufenthaltsbeschränkung vor, als dem Ausländer das vorübergehende Verlassen des Bereichs der Aufenthaltsgestattung aus zwingenden Gründen oder zur Vermeidung einer unbilligen Härte erlaubt werden konnte. Bei sachgerechter Handhabung dieser Ausnahmemöglichkeiten ist eine übermäßige Beschränkung der persönlichen Entfaltungsfreiheit der Asylbewerber nicht zu besorgen. Mit der gesetzlich vorgesehenen Befugnis, eine Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des Bereichs der Aufenthaltsgestattung auch dann zu erteilen, wenn deren Versagung eine "unbillige Härte" bedeuten würde, kann die Ausländerbehörde in ausreichendem Maße auf die besonderen Umstände des jeweiligen Falles, insbesondere auf die Dauer des Asylverfahrens, angemessen reagieren. Die in § 25 Abs. 2 und 3 AsylVfG a. F. getroffenen Bestimmungen stellten zudem sicher, daß die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung den Asylantragsteller in der Durchsetzung eines bestehenden Asylanspruchs nicht hinderte.
[16] Auch soweit eine wiederholte Zuwiderhandlung gegen die Aufenthaltsbeschränkung in § 34 Abs. 1 Nr. 3a AsylVfG a. F. mit Strafe bedroht war, ist dies verfassungsgemäß. Die strafrechtliche Sanktion hat die wirkungsvolle Durchsetzung des öffentlichen Interesses verfolgt, unkontrollierte Bewegungen der in großer Zahl in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Asylbewerber zu verhindern und sicherzustellen, daß sie sich jederzeit zur Verfügung der Behörden und Gerichte halten. Dabei ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß strafwürdiges Unrecht erst bei wiederholtem Verstoß vorliegt. In einem solchen Fall liegt das mit der Anwendung des Strafrechts ausgesprochene sozialethische Unwerturteil nicht außerhalb des dem Gesetzgeber eingeräumten weiten Spielraums eigenverantwortlicher Bewertung.
BVerfG, Beschluss vom 10. 4. 1997 – 2 BvL 45/92