Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Beschluss vom 19. 2. 1998 – 1 BvR 962/94 (lexetius.com/1998,581)

[1] In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn E … – Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Karl-Joachim Trude III, Kaesenstraße 15, Köln – gegen a) den Beschluß des Landgerichts Köln vom 18. April 1994 – 1 S 310/93 –, b) den Beschluß des Landgerichts Köln vom 30. Dezember 1993 – 1 T 630/93 –, c) das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 27. September 1993 – 207 C 171/93 – hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Seidl und die Richter Grimm, Hömig am 19. Februar 1998 einstimmig beschlossen:
[2] Das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 27. September 1993 – 207 C 171/93 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 2 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Damit wird der Beschluß des Landgerichts Köln vom 18. April 1994 – 1 S 310/93 – gegenstandslos. Die Sache wird insoweit an das Amtsgericht zurückverwiesen.
[3] Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
[4] Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
[5] Gründe: Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Errichtung einer Parabolantenne durch einen Mieter.
[6] I. 1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, ist Mieter einer Wohnung, die er mit seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern bewohnt. Das Haus ist an das Breitbandkabelnetz angeschlossen, in das ein türkisches Fernsehprogramm (TRT-INT) eingespeist wird. Um weitere Programme seines Heimatlandes empfangen zu können, brachte der Beschwerdeführer an der Rückwand des Mietshauses eine Parabolantenne an. Die Vermieterin, eine Wohnungsbaugesellschaft, forderte den Beschwerdeführer erfolglos auf, die Antenne zu entfernen. Daraufhin erhob sie Klage vor dem Amtsgericht. In seiner Widerklage beantragte der Beschwerdeführer, ihm die Errichtung einer Parabolantenne durch einen Fachmann auf eigene Kosten zu gestatten.
[7] 2. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer, die Parabolantenne zu entfernen. Unabhängig von der Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 GG und der Informationsfreiheit nach Art. 5 GG sei die Vermieterin nicht verpflichtet, die Anbringung der Parabolantenne an der Rückwand der Wohnung zu genehmigen. Sie könne wählen, wo die Antenne befestigt werden solle. Es sei auch nicht ersichtlich, ob die Antenne fachgerecht angebracht worden sei. Der Antrag des Beschwerdeführers, ihm zu gestatten, daß die Antenne durch einen Fachmann installiert werde, sei zulässig, aber unbegründet. Es fehle an einem Angebot, den Vermieter von den entstehenden Kosten und Gebühren im Zusammenhang mit der Installation der Antenne und allen weitergehenden Verpflichtungen freizustellen. Es bestünden auch Zweifel, ob die vom Beschwerdeführer gewünschten Programme tatsächlich mit der Parabolantenne zu empfangen seien. Unabhängig davon habe der Beschwerdeführer keinen Anspruch darauf, sich unbeschränkt über sein Heimatland zu informieren. Ein Anspruch auf Anbringung einer Parabolantenne bestünde nur dann, wenn kein Breitbandkabelanschluß vorhanden wäre. Ob die über Kabel zu empfangenden Sendungen staatlich kontrolliert seien, könne das Gericht nicht überprüfen. Auch das fehlende Angebot von Kindersendungen im staatlichen Fernsehen sei unerheblich, weil nicht dargelegt worden sei, wie alt die Kinder des Beschwerdeführers seien.
[8] Der Streitwert wurde auf 1.400 DM (jeweils 700 DM für den Klageantrag und den Widerklageantrag) festgesetzt. Die Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung wies das Landgericht zurück.
[9] Die Berufung des Beschwerdeführers verwarf das Landgericht als unzulässig nach § 519 b ZPO. Verfassungsrechtliche Aspekte der Informationsfreiheit könnten sich nicht unmittelbar streitwertbestimmend auswirken.
[10] 3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Grundrechts auf Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG. Die Eigentumsgarantie müsse gegenüber der Informationsfreiheit aus Art. 5 GG zurücktreten. Das Bundesverfassungsgericht gehe davon aus, daß das Vorhandensein eines Breitbandkabelanschlusses allein nicht genüge, um einem Ausländer die Errichtung einer Parabolantenne zu versagen. Außerdem habe er aus Art. 6 GG ein Recht, seinen Kindern ihrer kindlichen Entwicklung gemäße Sendungen zur Verfügung zu stellen. Die Streitwertfestsetzung sei willkürlich. Das ideelle Interesse des Mieters auf Nutzung der Antenne sei zu berücksichtigen. Auch die Berufung sei zu Unrecht als unzulässig verworfen worden. Es handele sich um eine mietrechtliche Angelegenheit im Sinne des § 511 a Abs. 2 ZPO. Das Amtsgericht sei von oberlandesgerichtlichen Entscheidungen abgewichen.
[11] 4. Die nordrhein-westfälische Landesregierung und die Gegnerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
[12] II. 1. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich auf den Beschluß des Landgerichts vom 30. Dezember 1993 bezieht, nicht zur Entscheidung anzunehmen; Anhaltspunkte für eine willkürliche Festsetzung des Streitwerts sind nicht ersichtlich.
[13] Im übrigen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil es zur Durchsetzung des Grundrechts auf Informationsfreiheit angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen insoweit vor (§ 93 c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde aus der Sicht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen im Beschluß vom 9. Februar 1994 – 1 BvR 1687/92 – (BVerfGE 90, 27 = NJW 1994, S. 1147 = ZMR 1994, S. 203) bereits entschieden.
[14] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zur Entscheidung anzunehmen ist, begründet. Das Urteil des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG.
[15] a) Das Bundesverfassungsgericht hat im oben angegebenen Beschluß vom 9. Februar 1994 entschieden, daß auch ausländische Rundfunkprogramme, deren Empfang in Deutschland möglich ist, allgemein zugängliche Quellen im Sinn von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bilden. Soweit der Empfang von technischen Anlagen abhängt, die eine an die Allgemeinheit gerichtete Information erst individuell erschließen, erfaßt der Grundrechtsschutz auch die Beschaffung und Nutzung solcher Anlagen. Rechtsnormen, die sich beschränkend auf die Errichtung von Empfangsanlagen auswirken, müssen daher unter Berücksichtigung des Grundrechts der Informationsfreiheit ausgelegt und angewandt werden. Das gilt auch für das Mietrecht. Erforderlich ist danach eine im Rahmen der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen vorzunehmende Abwägung zwischen den Informationsinteressen des Mieters und den Eigentumsinteressen des Vermieters, die auf die Umstände des konkreten Falles bezogen ist.
[16] Für den typischen Durchschnittsfall entspricht die Abwägung, die das Oberlandesgericht Frankfurt/M. in seinem Rechtsentscheid vom 22. Juli 1992 (NJW 1992, S. 2490 = WuM 1992, S. 458) vorgenommen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Dagegen trägt er dem besonderen Informationsinteresse dauerhaft in Deutschland lebender Ausländer nicht ausreichend Rechnung. Diese haben ein anerkennenswertes Interesse, die Programme ihres Heimatlandes zu empfangen, um sich über das dortige Geschehen unterrichten und die kulturelle und sprachliche Verbindung aufrechterhalten zu können. Angesichts der kleinen Zahl ausländischer Programme, die in das inländische Kabelnetz eingespeist werden, besteht diese Möglichkeit meist nur mittels einer Satellitenempfangsanlage. Das Interesse ausländischer Mieter an einer derartigen Anlage ist deshalb bei der Abwägung mit den Eigentümerinteressen zu berücksichtigen.
[17] Infolgedessen wird die grundlegende Bedeutung des Grundrechts auf Informationsfreiheit bei Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften verkannt, wenn der ausländische Mieter auf andere Informationsquellen oder auf einen Kabelanschluß verwiesen wird, der ihm nur beschränkten oder keinen Zugang zu seinen Heimatprogrammen verschafft. Ferner wird die grundlegende Bedeutung des Grundrechts auf Informationsfreiheit verkannt, wenn die Zivilgerichte von einem generellen Vorrang der Eigentumsinteressen ausgehen oder diesen im konkreten Fall den Vorrang vor den Informationsinteressen einräumen, ohne anzugeben, welche Eigenschaften des Mietobjekts dieses Ergebnis rechtfertigen.
[18] b) Diesen Anforderungen genügt das Urteil des Amtsgerichts nicht.
[19] In seiner Entscheidung über den Klagantrag hat das Gericht den Eigentümerinteressen allein deswegen den Vorrang eingeräumt, weil der Beschwerdeführer eigenmächtig gehandelt und damit das Bestimmungsrecht des Vermieters über den Ort der Antenne verletzt hat. Zwar steht dem Vermieter nach der einschlägigen Rechtsprechung der Fachgerichte (OLG Frankfurt/M., a. a. O.; OLG Karlsruhe, NJW 1993, S. 2815 = WuM 1993, S. 525) das Recht zu, einen geeigneten Installationsort für die Parabolantenne zu bestimmen. Das Amtsgericht setzt sich aber darüber hinweg, daß die Klägerin des Ausgangsverfahrens dieses Bestimmungsrecht nicht ausgeübt, sondern die Installation einer Parabolantenne generell verweigert hat. Unter diesen Umständen kann es auch auf die Bereitschaft des Beschwerdeführers zu fachmännischer Anbringung der Antenne und zur Kostenübernahme nicht ankommen.
[20] In seiner Entscheidung über die Widerklage hat das Amtsgericht darauf abgestellt, daß die Informationsinteressen des Beschwerdeführers durch den Kabelanschluß ausreichend befriedigt seien. Es ist damit von der auf den typischen Durchschnittsfall bezogenen Abwägung des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. ausgegangen, ohne den gesteigerten Informationsinteressen dauerhaft in Deutschland lebender Ausländer Rechnung zu tragen, die ebenfalls von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sind.
[21] 3. Andere Gründe, die das Ergebnis selbständig zu tragen vermöchten, sind nicht ersichtlich. Die angegriffene Entscheidung beruht deshalb auf der Verkennung der grundlegenden Bedeutung des Grundrechts auf Informationsfreiheit. Es ist nicht auszuschließen, daß die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG zu einem anderen Ergebnis gelangen.
[22] Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
[23] Diese Entscheidung ist unanfechtbar.