Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Beschluss vom 6. 12. 1999 – 1 BvR 1213/95 (lexetius.com/1999,1633)

[1] In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau B … – Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Jörg-Konrad Becker und Partner, Bundesallee 181, Berlin – gegen a) das Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder vom 27. April 1995 – 15 S 263/94 –, b) das Urteil des Amtsgerichts Fürstenwalde vom 27. Oktober 1994 – 12 C 1079/93 – hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Papier und die Richter Grimm, Hömig gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 6. Dezember 1999 einstimmig beschlossen:
[2] Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
[3] Gründe: Die Verfassungsbeschwerde betrifft zivilgerichtliche Entscheidungen, durch die die Klage einer Grundstückseigentümerin auf Herausgabe ihres Grundstücks gegen die Grundstücksnutzer abgewiesen worden ist.
[4] I. 1. Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin eines im Beitrittsgebiet belegenen Grundstücks, das von den Beklagten des Ausgangsverfahrens auf der Grundlage eines 1969 mit dem Rat der Gemeinde geschlossenen und 1974 auf eine größere Fläche ausgedehnten Pachtvertrags genutzt wird und im Rahmen dieser Nutzung mit einem Wochenendhaus bebaut worden ist. Das Grundstück stand nicht unter staatlicher Verwaltung.
[5] Die Beschwerdeführerin hat mit der Begründung, die geschlossenen Verträge wirkten nicht zwischen den Parteien, weil die Gemeinde nicht als staatlicher Verwalter gehandelt habe, von den Beklagten die Herausgabe des Grundstücks verlangt. Das Amtsgericht hat ihre Klage abgewiesen, das Landgericht die Berufung gegen diese Entscheidung zurückgewiesen, im wesentlichen aus folgenden Gründen:
[6] Die Beklagten hätten nach § 7 Abs. 3 des Schuldrechtsanpassungsgesetzes (SchuldRAnpG) vom 21. September 1994 (BGBl I S. 2538) in Verbindung mit Art. 232 § 4 a Abs. 1 und 3 EGBGB sowie dem mit dem Rat der Gemeinde geschlossenen Pachtvertrag gegenüber der Beschwerdeführerin ein Recht zum Besitz. Art. 232 § 4 a EGBGB verstoße wie das Schuldrechtsanpassungsgesetz nicht gegen Art. 14 GG. Inhalts- und Schrankenbestimmungen und damit Eingriffe in dieses Grundrecht lägen vor, wenn die Eigentumsbefugnisse des Betroffenen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage eingeschränkt würden. Das könne hier nicht festgestellt werden.
[7] Auf den vorliegenden Vertrag hätten vom Inkrafttreten des Zivilgesetzbuchs der Deutschen Demokratischen Republik (im folgenden: ZGB) an die §§ 312 ff. ZGB Anwendung gefunden. Eine Kündigung sei deshalb nur unter den qualifizierten Voraussetzungen des § 314 ZGB möglich gewesen. Dabei sei es nach der Wiedervereinigung gemäß Art. 232 § 4 Abs. 1 Satz 1 EGBGB bis zum Inkrafttreten des Vertragsmoratoriums nach Art. 232 § 4 a EGBGB zunächst geblieben. Das Moratorium habe im Interesse der Nutzer die Möglichkeit der Kündigung bis zum Erlaß des Schuldrechtsanpassungsgesetzes ausgeschlossen. In diesem Gesetz seien die Interessen sowohl der Eigentümer als auch der Nutzer hinreichend berücksichtigt worden.
[8] Die Beschwerdeführerin könne sich nicht darauf berufen, daß die Beklagten deshalb kein Recht zum Besitz hätten, weil eine staatliche Verwaltung nicht angeordnet worden sei. Gemäß Art. 232 § 4 a Abs. 3 Satz 1 EGBGB greife der Besitzschutz des Moratoriums auch dann Platz, wenn der Vertragsabschluß durch eine staatliche Stelle erfolgt sei, die nicht zum Abschluß solcher Verträge berechtigt gewesen sei. Die Beschwerdeführerin habe in diesem Zusammenhang nicht substantiiert dargelegt, daß die Beklagten nach Art. 232 § 4 a Abs. 3 Satz 2 EGBGB nicht besitzberechtigt seien, weil sie von der Nichtberechtigung der Gemeinde Kenntnis gehabt hätten.
[9] 2. Mit der rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die beiden zivilgerichtlichen Entscheidungen. Sie rügt in erster Linie eine Verletzung von Art. 14 GG. Sowohl die angegriffenen Entscheidungen als auch die in ihnen angewandten Rechtsvorschriften verstießen gegen dieses Grundrecht.
[10] Art. 232 § 4 EGBGB hätte dem Anspruch der Beschwerdeführerin auf Räumung des streitgegenständlichen Grundstücks nicht entgegengestanden. Weder die Beschwerdeführerin noch ihr Rechtsvorgänger noch ein Bevollmächtigter habe mit den Nutzern einen Vertrag nach den §§ 312 ff. ZGB geschlossen. Die Beschwerdeführerin solle deshalb nach Auffassung des Landgerichts mit ihrem Anspruch nach Art. 232 § 4 a EGBGB und dem Schuldrechtsanpassungsgesetz ausgeschlossen sein. Die auf Art. 232 § 4 a Abs. 2 und 3 EGBGB gestützte Auffassung möge vom Wortlaut dieser Regelungen gedeckt sein, verletzte jedoch das Eigentumsgrundrecht der Beschwerdeführerin. Gleiches gelte mit Blick auf das inzwischen in Kraft getretene Schuldrechtsanpassungsgesetz.
[11] Der Gesetzgeber habe zunächst durch das Moratorium und dann durch dieses Gesetz den Herausgabeanspruch der Beschwerdeführerin aus § 985 BGB beseitigt, und zwar auf einen Zeitraum von 20 Jahren, und damit in den Kern des Eigentums eingegriffen. Das würde auch dann gelten, wenn die Beschwerdeführerin vor Inkrafttreten des Moratoriums und des Schuldrechtsanpassungsgesetzes nicht frei verfügungsbefugt, sondern an die §§ 312 ff. ZGB gebunden gewesen wäre. Denn diese Vorschriften hätten zumindest für den Fall des Eigenbedarfs eine Beendigung des Nutzungsverhältnisses vorgesehen. Demgegenüber schlössen das Moratorium und das Schuldrechtsanpassungsgesetz bis zum Jahr 2000 eine Kündigung grundsätzlich aus.
[12] Die Beschwerdeführerin sei über 70 Jahre alt. Es sei deshalb abzusehen, daß sie schon aus Altersgründen von einer Kündigung und Eigennutzung Abstand nehmen müsse. Damit werde auch in ihr Freiheitsrecht aus Art. 2 GG eingegriffen.
[13] II. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
[14] 1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung.
[15] Wie das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluß vom 14. Juli 1999 – 1 BvR 995/95, 2288/95 und 2711/95 – inzwischen geklärt hat, verstößt § 23 SchuldRAnpG, soweit von der Beschwerdeführerin angegriffen, nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, hinter der die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zurücktritt. Die Gründe, die nach dieser Entscheidung den Ausschluß ordentlicher Kündigungen für die Zeit vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 1999 in § 23 Abs. 1 SchuldRAnpG im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG rechtfertigen, tragen auch die Moratoriumsregelung in Art. 232 § 4 a Abs. 1 EGBGB für die davor liegende Zeit (näher dazu Beschluß der Kammer vom heutigen Tage in den Verfahren 1 BvR 1580/95 und 1581/95).
[16] Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung gewinnt die Verfassungsbeschwerde auch nicht dadurch, daß die hier in Rede stehenden Nutzungsverträge nicht vom staatlichen Verwalter, sondern vom Rat der Gemeinde abgeschlossen wurden, ohne daß dieser dazu ermächtigt gewesen wäre. Absatz 3 des Art. 232 § 4 a EGBGB erstreckt das Vertragsmoratorium nach Absatz 1 dieser Vorschrift auch auf solche Verträge, wenn der Nutzer vom Fehlen der Ermächtigung keine Kenntnis hatte. Das gleiche gilt nach § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchuldRAnpG für die Einbeziehung der genannten Verträge in das Kündigungsschutzkonzept des § 23 SchuldRAnpG. Beide Regelungen dienen dem Interesse eines an den tatsächlichen Verhältnissen orientierten Nutzerschutzes (vgl. BTDrucks 12/5553, S. 131, und BTDrucks 12/7135, S. 43) und damit einem sozialverträglichen Ausgleich mit den Interessen der Grundstückseigentümer. Mit dieser Zielsetzung halten sie sich wie die Regelung des redlichen Eigentumserwerbs nach § 4 Abs. 2 Satz 1 des Vermögensgesetzes (vgl. dazu BVerfGE 95, 48 [58]; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 23. November 1999 – 1 BvF 1/94 -) im Rahmen des dem Gesetzgeber in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Auftrags, in Ausrichtung an dem Wohl der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 2 GG) und damit auch unter Berücksichtigung der Belange derjenigen, die auf die Nutzung des Eigentumsobjekts angewiesen sind (vgl. BVerfGE 37, 132 [140]), Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen.
[17] 2. Eine Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der von der Beschwerdeführerin als verletzt bezeichneten Grundrechte angezeigt. Da Art. 232 § 4 a Abs. 1 und 3 EGBGB und, soweit Gegenstand dieses Verfahrens, § 23 SchuldRAnpG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind und die Beschwerdeführerin die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften im Ausgangsverfahren über den Einwand hinaus, diese seien ihrem Inhalt nach verfassungswidrig, nicht angreift, hat die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg.
[18] Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).