Bundesarbeitsgericht
Dienstzeit – Musiker in Kulturorchestern – Orchesterpraktikantin – Vertragsauslegung

BAG, Urteil vom 13. 3. 2003 – 6 AZR 564/01 (lexetius.com/2003,1564)

[1] 1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 17. August 2001 – 18 Sa 774/01 – wird zurückgewiesen.
[2] 2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
[3] Tatbestand: Die Parteien streiten über die Berechnung einer Dienstzeit nach § 20 des Tarifvertrags für Musiker in Kulturorchestern (TVK).
[4] Die Klägerin war vom 28. Januar bis zum 30. Juni 1997 sowie vom 28. August bis zum 31. Dezember 1997 im Staatstheater K tätig. In den zugrunde liegenden Vereinbarungen vom 16. Juli 1997 und vom 30. Januar 1997 heißt es:
[5] "§ 1 1. Frau F wird in der Zeit vom … als Orchesterpraktikantin beschäftigt. 2. Sie ist im Rahmen dieser Vereinbarung zum Spielen des Instrumentes Kontrabaß verpflichtet. 3. Die Orchesterpraktikantin kann in entsprechender Anwendung des § 15 TVK zu monatlich höchstens 25 Diensten herangezogen werden. 4. Die Beschäftigung im Rahmen dieser Vereinbarung verfolgt den Zweck, die Orchesterpraktikantin über den theoretischen Rahmen des Studiums hinaus mit den praktischen Gegebenheiten und Erfordernissen des Theater- und Orchesterbetriebes vertraut zu machen und bildet insofern eine Ergänzung der im Studium erworbenen Fähigkeiten. § 2 Die Orchesterpraktikantin erhält für die Beschäftigung monatlich ein Entgelt in Höhe von DM 2. 600, 00 (i. W.: Zweitausendsechshundert, -) brutto. § 3 Auf das Beschäftigungsverhältnis finden die §§ 5 Abs. 2, 7—12, 13 Abs. 1, 17, 19, 28, 29, 30, 34, 40, 52 TVK entsprechend Anwendung. § 36 TVK findet Anwendung mit der Maßgabe, daß der Erholungsurlaub je Spielzeit 28 Kalendertage beträgt. …"
[6] Mit Schreiben vom März 1999 bescheinigte der Generalmusikdirektor des Staatstheaters K der Klägerin, in den genannten Zeiten als Aushilfe in der Kontrabaßgruppe des Orchesters beschäftigt gewesen zu sein. Die Klägerin leistete durchschnittlich 5, 9 Dienste pro Woche.
[7] Seit dem 10. Februar 2000 wird die Klägerin von der Beklagten als Orchestermusikerin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVK Anwendung. Dieser lautet, soweit hier von Interesse, wie folgt:
[8] "§ 20 Dienstzeit (1) Die Dienstzeit umfaßt die bei Kulturorchestern (§ 1 Abs. 2) als Musiker zurückgelegten und die nach den Absätzen 2 bis 5 anzurechnenden Zeiten. … (3) Zeiten einer Tätigkeit als Musiker in anderen als Kulturorchestern sowie Zeiten einer sonstigen musikalisch-künstlerischen oder einer musik-pädagogischen Tätigkeit können auf die Dienstzeit angerechnet werden. (4) Die in den Absätzen 1 und 3 aufgeführten Zeiten werden nicht angerechnet, wenn der Musiker das Arbeitsverhältnis gekündigt oder vorzeitig aufgelöst hat, oder wenn es aus einem von ihm verschuldeten Grunde beendet worden ist. Dies gilt nicht, wenn sich an das Arbeitsverhältnis unmittelbar ein anderes Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber oder ein Arbeitsverhältnis mit dem rechtlichen Träger eines anderen Kulturorchesters anschließt oder wenn der Musiker das Arbeitsverhältnis wegen eines mit Sicherheit erwarteten Personalabbaues oder wegen Unfähigkeit zur Fortsetzung der Arbeit infolge einer Körperbeschädigung oder einer in Ausübung oder infolge seiner Arbeit erlittenen Gesundheitsschädigung aufgelöst hat oder wenn die Nichtanrechnung eine unbillige Härte wäre. Die Sätze 1 und 2 gelten sinngemäß für ehemalige Beamte. …"
[9] Zur Feststellung der Dienstzeit überreichte die Klägerin die Praktikantenverträge über die Tätigkeit in K und bezog sich auf die Bescheinigung des Generalmusikdirektors des Staatstheaters K vom März 1999. Die Beklagte lehnte es ab, die Tätigkeit der Klägerin im Staatstheater K bei der Dienstzeitenberechnung nach dem TVK zu berücksichtigen.
[10] Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Zeiten als Orchesterpraktikantin seien auf die Dienstzeit nach § 20 TVK anzurechnen. Sie hat behauptet, während ihrer Tätigkeit in K in keiner Weise ausgebildet worden zu sein, sondern normalen Orchesterdienst geleistet zu haben. Sie sei auf einer freien Kontrabaßplanstelle eingesetzt worden. In den Vereinbarungen sei sie nur deshalb als Orchesterpraktikantin bezeichnet worden, um diese Planstelle formal unbesetzt lassen zu können.
[11] Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die Dienstzeiten der Klägerin bei dem Staatstheater K vom 28. Januar 1997 bis 30. Juni 1997 und vom 28. August 1997 bis 31. Dezember 1997 gemäß § 20 TVK anzurechnen.
[12] Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, bei der Tätigkeit der Klägerin in K habe es sich um eine Praktikantentätigkeit gehandelt. Diese stelle keine Dienstzeit im Sinne des TVK dar.
[13] Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
[14] Entscheidungsgründe: Die Revision hat keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen der Klage stattgegeben. Die Zeiten, in denen die Klägerin als Orchesterpraktikantin im Staatstheater K tätig war, sind nach § 20 TVK als Dienstzeit anzurechnen.
[15] I. Die Klage ist zulässig. Mit dem Antrag begehrt die Klägerin keine Anrechnung, sondern die Feststellung, daß ihre Tätigkeit beim Staatstheater K vom 28. Januar bis 30. Juni 1997 und vom 28. August bis zum 31. Dezember 1997 zu ihrer Dienstzeit iSv. § 20 Abs. 1 TVK gehört. Das erfüllt die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO.
[16] II. Die Klage ist begründet.
[17] 1. Nach § 20 Abs. 1 TVK umfaßt die Dienstzeit, die bei Kulturorchestern als Musiker zurückgelegten und die nach den Absätzen 2 bis 5 anzurechnenden Zeiten. Die tarifliche Regelung unterscheidet zwischen Zeiten, die bei Kulturorchestern als Musiker zurückgelegt wurden – diese werden nach § 20 Abs. 1 1. Halbsatz TVK von der Dienstzeit umfaßt – und Zeiten anderer Tätigkeiten, die nach den Absätzen 2 bis 5 anzurechnen sind. In allen Fällen sind als Dienstzeit eines Musikers in Kulturorchestern nur Zeiten anzurechnen, die im Rahmen von Arbeitsverhältnissen zurückgelegt werden. Dies ergibt eine an dem tariflichen Gesamtzusammenhang und dem daraus zu ermittelnden Sinn und Zweck orientierte Auslegung (vgl. BAG 18. Mai 2000 – 6 AZR 847/98 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 15).
[18] Danach ist insbesondere § 20 Abs. 4 TVK zu berücksichtigen, auf den § 20 Abs. 1 TVK ausdrücklich verweist. Dort ist bestimmt, daß die in den Absätzen 1 und 3 aufgeführten Zeiten nicht angerechnet werden, wenn der Musiker das Arbeitsverhältnis gekündigt oder vorzeitig aufgelöst hat oder wenn es aus einem von ihm verschuldeten Grund beendet worden ist. § 20 Abs. 4 TVK enthält demnach eine Ausnahmeregelung vom Anrechnungstatbestand in § 20 Abs. 1 1. Halbsatz TVK. Der TVK sieht vor, daß bestimmte Zeiten, die an sich als Dienstzeit zu berücksichtigen wären, unter den genannten Voraussetzungen nicht anzurechnen sind. Dabei setzt § 20 Abs. 4 TVK voraus, daß die von der Anrechnung ausgeschlossenen Zeiten in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegt wurden. Dies folgt aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Tarifbestimmung. Da der Ausschlußtatbestand Zeiten voraussetzt, die in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegt wurden, gilt dies auch für den Anrechnungstatbestand in § 20 Abs. 1 1. Halbsatz TVK. Eine gegenteilige Auffassung überzeugt nicht. Hätten die Tarifvertragsparteien eine solche Differenzierung beabsichtigt, hätte es nahegelegen, dies durch eine entsprechende Formulierung im Tarifvertrag zum Ausdruck zu bringen, zumal der TVK ausschließlich die Arbeitsbedingungen von Musikern in Arbeitsverhältnissen regelt und der "Musiker" iSd. TVK grundsätzlich Arbeitnehmer ist (§ 3 Abs. 1 TVK). Eine andere Auffassung würde dazu führen, daß Vordienstzeiten, die der Musiker in Arbeitsverhältnissen zurückgelegt hat, unter den in § 20 Abs. 4 TVK genannten Voraussetzungen ungünstiger behandelt würden als Vordienstzeiten, in denen der Musiker außerhalb eines Arbeitsverhältnisses tätig war. Für eine solche Unterscheidung ist kein einleuchtender Grund ersichtlich (vgl. BAG 18. Mai 2000 – 6 AZR 847/98 – aaO).
[19] 2. Zu Recht ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, daß trotz der in den Vereinbarungen vom 30. Januar 1997 und 16. Juli 1997 verwendeten Benennung der Klägerin als "Orchesterpraktikantin" die fraglichen Tätigkeiten im Orchester des Staatstheaters K auf der Grundlage eines Arbeitsverhältnisses erbracht wurden und die Klägerin demzufolge Arbeitnehmerin war. Ob die Dauer eines Praktikantenverhältnisses bei der Feststellung der Dienstzeit nach § 20 TVK zu berücksichtigen ist, bedarf keiner Entscheidung.
[20] a) Arbeitnehmer ist, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages im Dienst eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist (st. Rspr. BAG 6. Juli 1995 – 5 AZB 9/93BAGE 80, 256 = AP ArbGG 1979 § 5 Nr. 22 = EzA ArbGG 1979 § 5 Nr. 11 mwN). Der Arbeitnehmer erbringt seine vertraglich geschuldete Leistung im Rahmen einer von Dritten bestimmten Arbeitsorganisation. Seine Eingliederung in die Arbeitsorganisation zeigt sich insbesondere daran, daß er einem Weisungsrecht unterliegt, das Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen kann (st. Rspr. BAG 6. Mai 1998 – 5 AZR 612/97 – AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 95 = EzA BGB § 611 Arbeitnehmerbegriff Nr. 68).
[21] b) Demgegenüber ist ein Praktikant in aller Regel vorübergehend in einem Betrieb praktisch tätig, um sich die zur Vorbereitung auf einen – meist akademischen – Beruf notwendigen praktischen Kenntnisse und Erfahrungen anzueignen. Allerdings findet in einem Praktikantenverhältnis keine systematische Berufsausbildung statt. Vielmehr wird eine darauf beruhende Tätigkeit häufig Teil einer Gesamtausbildung sein und beispielsweise für die Zulassung zu Studium oder Beruf benötigt (BAG 19. Juni 1974 – 4 AZR 436/73BAGE 26, 198 = AP BAT § 3 Nr. 3 = EzA BBiG § 19 Nr. 1; ErfK/Schlachter 3. Aufl. § 19 BBiG Rn. 3). Demnach steht bei einem Praktikantenverhältnis ein Ausbildungszweck im Vordergrund. Die Vergütung ist der Höhe nach deshalb auch eher eine Aufwandsentschädigung oder Beihilfe zum Lebensunterhalt.
[22] c) Nach diesen Grundsätzen haben die Vorinstanzen die Tätigkeit der Klägerin beim Staatstheater K auf der Grundlage der überreichten "Praktikantenverträge" zu Recht als Arbeitsverhältnis eingeordnet.
[23] Aus § 1 Nr. 2 der Vereinbarungen ergab sich die Pflicht der Klägerin zum "Spielen des Instrumentes Kontrabaß". Nach § 1 Nr. 3 konnte sie zu "Diensten herangezogen werden". § 2 bestimmte, daß sie "für die Beschäftigung" ein "Entgelt" erhält. Zu Recht hat deshalb das Landesarbeitsgericht angenommen, daß die Zahlung damit nicht als Aufwandsentschädigung oder Beihilfe im Rahmen eines Praktikums, sondern als echte Gegenleistung für die Tätigkeit der Klägerin zu verstehen ist. Der Entgeltcharakter folgt auch daraus, daß nach § 3 der Vereinbarungen ua. § 36 TVK Anwendung fand, wonach der Musiker Urlaub unter Fortzahlung der Vergütung erhält. § 3 der Vereinbarungen erklärte auch die übrigen wesentlichen Regelungen des für Arbeitnehmer abgeschlossenen TVK als entsprechend anwendbar. Nach § 7 TVK galt für die Klägerin eine umfassende Mitwirkungspflicht, ebenso das für anwendbar erklärte Zustimmungserfordernis bei Nebenbeschäftigung (§ 9 TVK), das Führen von Personalakten (§ 10 TVK) sowie die Regelungen zur Arbeitsversäumnis nach § 19 TVK. Zutreffend haben die Vorinstanzen auch die Höhe des Entgelts als Indiz für ein Arbeitsverhältnis gewertet. Maßstab ist, daß die gezahlten Beträge deutlich über eine Aufwandsentschädigung oder Beihilfe hinausgingen. Die Vergütungsvereinbarung spricht daher eher dafür, daß nicht ein Ausbildungszweck, sondern die Erbringung von Arbeitsleistungen im Vordergrund der Vereinbarungen stand. Auch der Umfang der von der Klägerin erbrachten Dienste legt die Annahme eines Praktikums nicht nahe. 5, 9 Dienste im wöchentlichen Schnitt entsprechen in etwa ¾ der in § 15 TVK geregelten Pflichten. Das erklärt auch den Inhalt des Schreibens vom März 1999, in dem der Generalmusikdirektor des Staatstheaters der Klägerin bescheinigt, als Aushilfe in der Kontrabaßgruppe des Orchesters tätig gewesen zu sein. Nicht maßgeblich ist dagegen die Bezeichnung der Klägerin als "Orchesterpraktikantin". Für die rechtliche Einordnung eines Vertrages als Arbeitsvertrag kommt es nicht darauf an, wie die Parteien das Rechtsverhältnis bezeichnen (st. Rspr. BAG 12. September 1996 – 5 AZR 1066/94BAGE 84, 108 = AP BGB § 611 Freier Mitarbeiter Nr. 1 = EzA BGB § 611 Arbeitnehmerbegriff Nr. 58, zu II 2 der Gründe).
[24] d) Nachdem die schriftlichen Vereinbarungen eine Einordnung als Arbeitsverhältnis begründen, wäre es Sache der Beklagten gewesen, Umstände im einzelnen darzulegen, aus denen folgt, daß während der Zeit der Tätigkeit der Klägerin im Orchester des Staatstheaters K tatsächlich der Ausbildungszweck beherrschend im Vordergrund stand. Dieser Darlegungspflicht ist sie nicht nachgekommen. Allerdings verfügt die Beklagte als Dritte nicht über eigene Kenntnisse der vom Staatstheater K praktizierten Vertragsdurchführung. Angesichts der substantiierten Darlegung der für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses sprechenden Umstände seitens der Klägerin und der Vorlage der Bescheinigung des Generalmusikdirektors des Staatstheaters K konnte sich die Beklagte nicht mehr auf ein bloßes Bestreiten beschränken. Sie trifft in einem solchen Fall eine Erkundigungspflicht zur Vorbereitung eines entsprechenden Sachvortrags. Dem hat sie nicht entsprochen. Auch darauf haben die Vorinstanzen zu Recht hingewiesen.
[25] III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.