Bundesverwaltungsgericht
Rückwirkung von Verfahrensregelungen; unangemessene Verfahrensverzögerung; Kameradschaftspflicht; Fürsorgepflicht; rechtfertigender Notstand; Fahrlässigkeit; vermeidbarer Verbotsirrtum.
GG Art. 20 Abs. 1; EMRK Art. 6; WDO § 93 Abs. 1 Satz 2
1. § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO ist nicht auf vor seinem am 1. Januar 2002 erfolgten In-Kraft-Treten liegende Sachverhalte anzuwenden.
2. Ein Vorgesetzter, der einen Untergebenen veranlasst, den Unteroffizier vom Dienst-Posten zu verlassen, verstößt gegen seine Pflichten zur Fürsorge und zur Kameradschaft.
3. Zur Vorgesetztenstellung innerhalb umschlossener militärischer Anlagen.
4. Zur fahrlässigen Verletzung der Fürsorge- und der Kameradschaftspflicht.
5. Zur Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums.

BVerwG, Urteil vom 19. 2. 2004 – 2 WD 14.03; Truppendienstgericht Nord (lexetius.com/2004,1265)

[1] Der frühere Soldat, der im Dienstrang eines Kapitänleutnants der Reserve eine Wehrübung absolvierte, ließ sich von einem diensthabenden Unteroffizier (UvD) von seinem im Ausland liegenden – grenznahen – Wohnort mit dessen Privat-Pkw abholen, um in der Dienststelle einen vom UvD nicht entschlüsselbaren Alarmspruch zu dechiffrieren. Nach der Dechiffrierung veranlasste der frühere Soldat den UvD, ihn mit dessen Privat-Pkw von der Dienststelle wieder zu seinem Wohnort zurückzufahren.
[2] Das Truppendienstgericht wertete das Verhalten des früheren Soldaten als Dienstvergehen und stellte das Verfahren ein. Die Berufung des früheren Soldaten hatte beim Bundesverwaltungsgericht keinen Erfolg.
[3] Gründe: 1. Verfahrenshindernisse, die den Senat an einer Sachentscheidung hindern würden, liegen nicht vor. …
[4] a) Soweit der frühere Soldat geltend macht, die Einleitungsverfügung sei unwirksam, weil er unmittelbar vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht mehr angehört worden sei, folgt der Senat dem nicht.
[5] Nach der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Regelung des § 86 Abs. 1 WDO a. F. war – anders als jetzt in § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO – eine unmittelbar vor Ergehen der Einleitungsverfügung durch die Einleitungsbehörde vorzunehmende Anhörung des Soldaten nicht zwingend vorgeschrieben. Zwar galt schon damals, dass gegen einen Soldaten keine Disziplinarmaßnahme verhängt werden darf, bevor er nicht Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Rechtfertigung hatte (vgl. § 28 Abs. 4 und 5 WDO a. F.). Außerdem hatte er nach § 83 Abs. 1 Satz 1 WDO a. F. jederzeit Anspruch auf Akteneinsicht, soweit dies ohne Gefährdung des Ermittlungszweckes möglich war. Nach Abschluss der Ermittlungen des Wehrdisziplinaranwalts war zudem dem Soldaten das wesentliche Ergebnis bekannt zu geben; ferner war er abschließend zu hören (§ 90 Abs. 3 Satz 1 WDO a. F.).
[6] Dem früheren Soldaten wurde im vorliegenden Fall vor Ergehen der Einleitungsverfügung in der von der damals geltenden gesetzlichen Regelung vorgesehenen Weise hinreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Davon hat er auch umfangreich Gebrauch gemacht. …
[7] Auf die Vorschrift des § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO konnte sich der frühere Soldat (noch) nicht berufen, da diese erst mit Wirkung ab 1. Januar 2002 in Kraft trat. Mangels anderweitiger Übergangsregelung vermag die Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO rechtliche Wirkungen erst ab ihrem In-Kraft-Treten zu entfalten. Die als Art. 1 des Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung anderer Vorschriften (2. WehrDiszNOG) vom 16. August 2001 (BGBl I S. 2093) erfolgte und am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Neufassung der WDO enthält – ebenso wie das 2. WehrDiszNOG im übrigen – keine rückwirkenden Regelungen für bereits durchgeführte vorgerichtliche Verfahren. Am 1. Januar 2002 war die Einleitungsverfügung bereits ergangen und dem Soldaten wirksam zugestellt worden; auch die Anschuldigungsschrift war bereits beim Truppendienstgericht Nord eingegangen und dem Soldaten wirksam zugestellt worden. Lediglich das gerichtliche Disziplinarverfahren war zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Neufassung der WDO noch nicht abgeschlossen, sodass es nach Maßgabe der neuen Vorschriften fortzusetzen und einer Entscheidung zuzuführen war. Die von dem früheren Soldaten für seine gegenteilige Ansicht angeführten Entscheidungen stützen diese nicht. Im Gegenteil wird dort festgestellt, dass Änderungen des Verfahrensrechts sich nur für die Zukunft auswirken können, nach altem Recht aber wirksam vorgenommene Verfahrenshandlungen wirksam bleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 1969 – 4 StR 357/68 –; Beschluss vom 20. Februar 1976 – 2 StR 601/75 –; OLG Hamm, Beschluss vom 13. Januar 1975 – 3 Ws 335/74 –; BVerfG, Beschluss vom 11. März 1975 – 2 BvR 135, 136, 137, 138, 139/75 -).
[8] Der von dem früheren Soldaten für den Fall, dass der erkennende Senat von der von ihm angeführten "Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofes abweicht", gestellte Antrag, die Rechtsfrage dem Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Entscheidung vorzulegen, erübrigt sich daher. Denn eine Abweichung von der angeführten Rechtsprechung ist nicht ersichtlich.
[9] b) Soweit der frühere Soldat eine "überlange Verfahrensdauer" rügt und daraus die Schlussfolgerung zieht, das gerichtliche Disziplinarverfahren sei gemäß § 123 Satz 3 i. V. m. § 108 Abs. 4 WDO durch Beschluss einzustellen, folgt dem der Senat nicht.
[10] Dabei kann offen bleiben, ob Art. 6 EMRK im Wehrdisziplinarrecht überhaupt anwendbar ist. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und "innerhalb einer angemessenen Frist" gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht. Das in der Vorschrift normierte Gebot der Einhaltung einer "angemessenen" Frist gilt für alle der Vorschrift unterfallenden Verfahrensarten. Ob dazu auch Verfahren des Disziplinarrechts gehören, ist umstritten (verneinend: Urteil vom 9. Mai 1973 – BVerwG 1 D 8.73 –; Beschluss vom 25. März 1982 – BVerwG 1 DB 2.82 –; Urteil vom 19. September 1989 – BVerwG 1 D 69.88 –; bejahend u. a.: Köhler/Ratz, BDO, 3. Aufl. 1994, und BDG, 3. Aufl. 2003, jeweils A. V. RNr. 128 sowie – im Falle der Verhängung der Höchstmaßnahme – Widmaier, ZBR 2002, 244). Der erkennende Senat hat die Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf Verfahren des Wehrdisziplinarrechts bislang mangels Entscheidungserheblichkeit ausdrücklich offen gelassen, weil im seinerzeit zu entscheidenden Verfahren die überlange Verfahrensdauer bereits durch die Strafgerichte bei der Festsetzung des Strafmaßes berücksichtig worden war (Urteil vom 27. Februar 2002 – BVerwG 2 WD 18.01 -).
[11] Vorliegend kann die Frage ebenfalls offen bleiben. Denn die Entscheidung im vorliegenden gerichtlichen Disziplinarverfahren ist jedenfalls binnen einer angemessenen Frist im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt, sodass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK schon deshalb nicht vorliegen kann. Aus diesem Grund ist auch ein Verfassungsverstoß nicht ersichtlich.
[12] Feste Zeitgrenzen, deren Überschreitung automatisch eine Verletzung des Gebots der Angemessenheit der Verfahrensdauer darstellt, lassen sich weder der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) noch der des Bundesverfassungsgerichts entnehmen. Bei der Prüfung, ob die Dauer eines Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK noch angemessen ist oder nicht, stellt der EGMR in erster Linie auf den Umfang und die Schwierigkeit des Falles, dessen Behandlung durch die mit ihm befassten Behörden und Gerichte, das Verhalten des Beschwerdeführers sowie die Bedeutung des Ausgangs des Verfahrens für den Betroffenen ab (vgl. dazu die Einzelnachweise bei Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Art. 6 RNr. 144 ff.; EGMR, Beschlüsse vom 31. Mai 2001 – Nr.: 37591/97 –; vom 26. Oktober 2000 – Nr.: 30210/96 –; vom 18. Oktober 2001 – Nr.: 42505/98 und vom 6. Dezember 2001 – Nr.: 31178/96 –; Meyer-Ladewig, EMRK, 1. Aufl. 2003, Art. 6 RNr. 77 ff.).
[13] Nach diesen Kriterien liegt hier keine überlange Verfahrensdauer vor. (wird ausgeführt)
[14] Angesichts dessen ist auch nicht erkennbar, dass eine mit dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes nicht im Einklang stehende Verfahrensverzögerung (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1980 – 2 BvR 419/80 zu einer von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortenden erheblichen Verzögerung eines Strafverfahrens und Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 25. Juli 2003 – 2 BvR 153/03 zur nicht genügenden Berücksichtigung der überlangen Dauer eines Strafverfahrens beim Rechtsfolgenausspruch) vorliegt.
[15] Da mithin hier eine unangemessen lange Verfahrensdauer, die auf eine schuldhaft verzögerliche Behandlung der Verfahrensbearbeitung durch die Ermittlungsbehörden oder durch die beteiligten Gerichte zurückzuführen ist, nicht ersichtlich ist, bedarf es auch keiner näheren Prüfung und Entscheidung der Frage, ob eine rechtsstaatswidrig oder gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verstoßende überlange Verfahrensdauer ein Verfahrenshindernis darstellt, das zur Einstellung des Verfahrens führt, oder ob sie "lediglich" bei dem Rechtsfolgenausspruch und ggf. der Maßnahmebemessung berücksichtigt werden muss. …
[16] 2. Die Berufung des früheren Soldaten hat in der Sache keinen Erfolg.
[17] Die Truppendienstkammer hat im angefochtenen Urteil zu Recht festgestellt, dass der frühere Soldat ein Dienstvergehen begangen hat. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, wie das Verhalten des früheren Soldaten, also sein von S. aus an den Zeugen E. gerichtetes Ansinnen rechtlich zu bewerten ist, ihn mit dem Privat-Kfz aus S. abzuholen und nach R. zu bringen. Denn jedenfalls sein (anschließendes) Verhalten gegenüber dem Zeugen E. im Standortsanitätszentrum (StOSanZ) R. stellt ein Dienstvergehen dar. …
[18] Indem der frühere Soldat am Abend des 27. Juni 1999 im StOSanZ R. nach der Dechiffrierung des Alarmspruchs den Zeugen E. dazu veranlasste, ihn mit dem Privat-Kfz zu seinem Wohnsitz nach S. zu fahren, verstieß er jedenfalls gegen seine Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG) und gegen seine Kameradschaftspflicht (§ 12 Satz 2 SG).
[19] Aufgrund seiner in § 10 Abs. 3 SG normierten Fürsorgepflicht hat jeder Vorgesetzte den Untergebenen nach Recht und Gesetz zu behandeln. Die Vorschrift verpflichtet den Vorgesetzten darüber hinaus, von seinen Befugnissen unter angemessener Berücksichtigung der persönlichen Belange des Untergebenen Gebrauch zu machen. Er muss sich bei allen Handlungen vom Wohlwollen dem Untergebenen gegenüber leiten lassen und stets bemüht sein, den Soldaten vor Nachteilen und Schäden zu bewahren (stRspr.: vgl. u. a. Urteile vom 6. Juli 1976 – BVerwG II WD 11.76 –, vom 13. Februar 2003 – BVerwG 2 WD 33.02 –, vom 27. Januar 2004 – BVerwG 2 WD 2.04 – m. w. N. sowie die Einzelnachweise bei Scherer/Alff, SG, 6. Aufl. 1988, § 10 RNr. 21 sowie 7. Aufl. 2003, § 10 RNr. 21 jeweils m. w. N.). Ein Vorgesetzter darf seine Untergebenen nicht der Gefahr einer disziplinaren Maßregelung aussetzen. Zur Pflicht des Vorgesetzten gegenüber einem Untergebenen gehört es gerade auch, ihn vor der Begehung von Dienstpflichtverletzungen und vor der Gefahr einer disziplinaren Maßregelung zu bewahren (stRspr.: vgl. u. a. Beschluss vom 6. März 1987 – BVerwG 2 WDB 11.86 m. w. N., Urteile vom 4. April 1989 – BVerwG 2 WD 26.88 und vom 25. Oktober 1995 – BVerwG 2 WD 12.95 –; Scherer/Alff, SG, 6. Aufl. 1988, § 10 RNr. 32 m. w. N. und 7. Aufl. 2003, § 10 RNr. 32 m. w. N.).
[20] Dieser Verpflichtung handelte der frühere Soldat zuwider, indem er an jenem Abend des 27. Juni 1999 im StOSanZ R. den ihm unterstellten Zeugen E. veranlasste, den Posten als UvD zu verlassen und damit gegen zentrale Pflichten eines UvD zu verstoßen. Er war zum Tatzeitpunkt im StOSanZ Vorgesetzter des Zeugen E. Dies ergibt sich aus § 4 Abs. 3 sowie Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 VorgV. Danach können innerhalb umschlossener militärischer Anlagen Soldaten einer höheren Dienstgradgruppe den Soldaten einer niedrigeren Dienstgradgruppe in und außer Dienst Befehle erteilen. Der frühere Soldat setzte den Zeugen E. im StOSanZ R., also innerhalb einer umschlossenen militärischen Anlage, durch sein Verhalten der Gefahr einer disziplinaren Maßregelung aus, auch wenn der Disziplinarvorgesetzte des Zeugen E. später von einer solchen Maßregelung letztlich absah. Der UvD überwacht von seinem Dienstantritt an bis zum Ende des UvD-Dienstes nach Nr. 225 ZDv 10/5 die Durchführung der Anordnungen und Maßnahmen für den Innendienst in einer oder mehreren Einheiten. Er ist Vorgesetzter mit besonderem Aufgabenbereich (§ 3 VorgV) gegenüber allen Soldaten der Einheit bzw. der Einheiten, für die er eingeteilt ist, die der eigenen oder einer niedrigeren Dienstgradgruppe angehören, seine unmittelbaren Vorgesetzten ausgenommen. Nach der Anlage 3 Abschnitt IV Ziff. 2 zu Nr. 225 ZDv 10/5 darf er sich "nur mit Genehmigung des Kompaniefeldwebels vertreten lassen". Das Nähere regelt die jeweilige UvD-Dienstanweisung. Nach der für das StOSanZ R. erlassenen Dienstanweisung darf sich der UvD "nur mit Genehmigung des Arztes vom Dienst bzw. Standortarztes, in dringenden Fällen des Führers Sanitätsbereitschaftsdienst, vertreten lassen. …
[21] Indem der frühere Soldat den Zeugen E. an jenem Abend des 27. Juni 1999 im StOSanZ veranlasste, ihn mit dem Privat-Kraftfahrzeug nach S. zu fahren, setzte er diesen darüber hinaus auch den mit dem Betrieb und dem Führen eines Kraftfahrzeuges verbundenen typischen Gefahren des Straßenverkehrs aus, was unter Umständen mit erheblichen haftungsrechtlichen Risiken für den Zeugen hätte verbunden sein können.
[22] Das Verhalten des früheren Soldaten gegenüber dem Zeugen E. an jenem Abend des 27. Juni 1999 im StOSanZ R. verstieß auch gegen seine in § 12 Satz 2 SG normierte Pflicht zur Kameradschaft. Die Feststellung einer Pflichtverletzung nach § 12 Satz 2 SG ist durch die gleichzeitige Feststellung eines Verstoßes gegen die Fürsorgepflicht nicht ausgeschlossen (stRspr.: u. a. Urteil vom 6. Juli 1976 – BVerwG II WD 11.76 -). Nach § 12 Satz 2 SG sind alle Soldaten verpflichtet, nicht nur die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten, sondern diesem auch "in Not und Gefahr beizustehen". Diese Pflicht beinhaltet für jeden Soldaten u. a., alles ihm Zumutbare zu tun, um einen Kameraden aus einer Gefahr zu retten oder ihn vor einer erkannten Gefahr zu bewahren. Er muss prüfen, ob und in welcher Weise ein dem Kameraden drohender Schaden abgewendet werden kann und wie er die erforderliche und ihm mögliche und zumutbare Hilfe leisten kann (vgl. u. a. Scherer/Alff, a. a. O., 6. Aufl. 1988 und 7. Aufl. 2003, jeweils § 12 RNr. 13 m. w. N.). Im vorliegenden Falle musste es mithin der frühere Soldat jedenfalls unterlassen, diesen durch das angesonnene Verhalten der Gefahr einer disziplinaren Maßregelung sowie haftungsrechtlichen Risiken und Gefahren und einem damit drohenden Schaden auszusetzen.
[23] Für sein Verhalten kann sich der Soldat nicht auf Rechtfertigungsgründe berufen, die das Vorliegen einer Pflichtverletzung ausschlössen. Insbesondere lag kein rechtfertigender Notstand im Sinne des § 34 StGB (vgl. dazu u. a. Scherer/Alff, a. a. O., 6. Aufl. 1988 und 7. Aufl. 2003, jeweils § 23 RNr. 4) vor. Nach § 34 Satz 1 StGB handelt nicht rechtswidrig, wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt nach § 34 Satz 2 StGB allerdings nur, wenn die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. Im vorliegenden Falle handelte der frühere Soldat bei seinem am 27. Juni 1999 im StOSanZ R. erfolgten Verstoß gegen § 10 Abs. 3 SG und § 12 Satz 2 SG nicht in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für die in § 34 Satz 1 StGB genannten Rechtsgüter, sodass es auf die darüber hinaus erforderliche Interessenabwägung nicht ankommt. (wird ausgeführt)
[24] Der frühere Soldat hat die festgestellten Pflichtverletzungen im StOSanZ R. am 27. Juni 1999 schuldhaft begangen. Ein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 SG begeht der Soldat, wenn er schuldhaft seine Pflichten verletzt, d. h. vorsätzlich oder fahrlässig. Sofern für einzelne Vorschriften etwas anderes gelten soll, muss die betreffende Vorschrift, wie z. B. § 17 Abs. 4 Satz 2 SG, bezüglich der Schuldform eine Einschränkung enthalten. Weder § 10 Abs. 3 SG noch § 12 Satz 2 SG enthalten eine solche Einschränkung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann daher die Kameradschaftspflicht (§ 12 Satz 2 SG) ebenso wie die Fürsorgepflicht des Vorgesetzten (§ 10 Abs. 3 SG) auch in der fahrlässigen Begehungsform verletzt werden (vgl. u. a Urteile vom 30. Januar 1968 – BVerwG I WD 37.67 – und vom 15. April 1977 – BVerwG II WD 34.76 -).
[25] Der frühere Soldat hat fahrlässig gehandelt.
[26] Ein fahrlässiges Handeln liegt dann vor, wenn der Täter den Tatbestand rechtswidrig verwirklicht, indem er eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, die er nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vorhersehen und vermeiden konnte. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Denn der frühere Soldat war nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage vorherzusehen, dass er mit seinem an den Zeugen E. gerichteten Ansinnen, ihn von R. mit dem Privat-Kfz nach S. zurückzufahren, in die Situation brachte, gegen die Dienstpflichten als UvD StOSanZ zu verstoßen und sich damit der Gefahr disziplinarer Maßregelung auszusetzen. (wird ausgeführt)
[27] Angesichts der ihm in mehreren dienstlichen Beurteilungen bescheinigten Qualitäten musste von dem früheren Soldaten im Tatzeitraum erwartet werden zu erkennen, dass er durch sein an den Zeugen E. herangetragenes Ansinnen, den UvD-Posten zu verlassen und ihn nach S. zu fahren, diesen zu einer Pflichtverletzung veranlasste, die diesen in die Gefahr disziplinarer Maßregelung brachte. Auch wenn der Senat nicht mit der erforderlichen Gewissheit hat feststellen können, dass der frühere Soldat seine Pflichtverletzung vorsätzlich beging, hätte der frühere Soldat diese jedoch bei hinreichendem Nachdenken sowie durch hinreichende Berücksichtigung der Situation des Untergebenen vermeiden können. Denn niemand zwang ihn, sein persönliches Ziel, noch an jenem Abend von R. zu seiner Wohnung in S. zu gelangen, unter objektiver Missachtung seiner Kameradschaftspflicht und seiner Fürsorgepflicht gegenüber einem Untergebenen zu verfolgen. Der Wunsch, zu einer bestimmten Zeit den eigenen Wohnort zu erreichen, berechtigt einen Soldaten nicht zu Verstößen gegen Dienstpflichten.
[28] Abgesehen davon standen dem früheren Soldaten auch reale Handlungsalternativen zur Verfügung, um rechtzeitig zu dem für ihn wichtigen Termin am nächsten Morgen zu erscheinen. Auch wenn ihm einige Stunden zuvor bei einer telefonischen Auskunft durch einen Bediensteten der Österreichischen Bundesbahn tatsächlich gegen 21. 00 Uhr mitgeteilt worden sein sollte, an jenem Abend verkehrten keine Züge mehr zwischen S. und R., hätte er sich damit jedenfalls im StOSanZ nach Dechiffrierung des Alarmspruchs nicht zufrieden geben dürfen. Als erfahrenem Bahnfahrer, der zudem damals nahezu täglich zwischen seinem Dienstort R. und seinem Wohnort S. pendelte, war es für ihn nahe liegend und zumutbar, sich selbst durch Einsichtnahme in einen ausgehängten oder über Internet zugänglichen Fahrplan der Deutschen Bahn oder durch einen kurzen Telefonanruf bei der Bahnauskunft über bestehende Zugverbindungen zu vergewissern. (wird ausgeführt)
[29] Selbst wenn er – objektiv und subjektiv vermeidbar – auf diese Vergewisserung verzichtete, hätte er sein persönliches Ziel, möglichst noch an jenem Abend zu seinem Wohnsitz in S. zu gelangen, durchaus auch auf andere Weise erreichen können. Insbesondere stand ihm die Möglichkeit offen, ein Taxi für die Fahrt von R. nach S. in Anspruch zu nehmen, falls er nicht mit dem Frühzug fahren wollte. (wird ausgeführt)
[30] Die Einsichtsfähigkeit des früheren Soldaten in die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens war auch nicht durch einen unvermeidbaren Verbotsirrtum im Sinne des § 17 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Ihm war bewusst, dass sich der Zeuge E. im UvD-Dienst befand. Aufgrund seiner ihm in den Beurteilungen mehrfach bescheinigten hervorragenden Vorschriftenkenntnis und seiner juristischen Ausbildung im deutschen und im österreichischen Rechtskreis dürfte ihm nach der Überzeugung des Senats auch bewusst gewesen sein, dass der Zeuge E. als UvD sein Dienstzimmer nicht ohne Genehmigung des zuständigen Vorgesetzten verlassen durfte. Aus den gleichen Gründen war nach der Überzeugung des Senats dem früheren Soldaten auch der wesentliche Inhalt seiner Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG) und der Kameradschaftspflicht (§ 12 Satz 2 SG) bewusst. Es kann ihm freilich nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden, dass er einen solchen Pflichtverstoß auch wollte.
[31] Selbst wenn sich der frühere Soldat im Tatzeitpunkt im StOSanZ R. über die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens in einem Verbotsirrtum befunden haben sollte, wäre dieser Irrtum im Sinne des § 17 Satz 2 StGB vermeidbar gewesen. Vermeidbar ist ein Verbotsirrtum dann, wenn dem Täter sein Vorhaben unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse hätte Anlass geben müssen, über dessen mögliche Rechtswidrigkeit nachzudenken oder sich zu erkundigen, und er auf diesem Wege zur Unrechtseinsicht gekommen wäre (vgl. dazu u. a Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl. 2003, § 17 RNr. 7 m. w. N.). Aufgrund seiner militärischen Ausbildung, seiner langjährigen Erfahrung als Reserveoffizier mit dem Dienstgrad eines Kapitänleutnants der Reserve sowie aufgrund seiner langjährigen juristischen Ausbildung hatte er Veranlassung, sich im Zweifelsfall jedenfalls etwa anhand der einschlägigen ZDv 10/5 und/oder der Dienst-anweisung für den UvD-Dienst, die sich bei den UvD-Unterlagen befand, oder auch durch telefonische Rücksprache mit seinem Disziplinarvorgesetzten zu vergewissern, ob der Zeuge E. als UvD berechtigt war, vor Ablauf des UvD-Dienstes das StOSanZ zu verlassen, um ihn nach S. zu fahren. Der Dienstanweisung für den UvD StOSanZ hätte er ohne weiteres entnehmen können, dass sich der UvD "nur mit Genehmigung des Arztes vom Dienst bzw. Standortarztes, in dringenden Fällen des Führers Sanitätsbereitschaftsdienst, vertreten lassen" darf und dass der UvD StOSanZ das Dienstzimmer nur "zur Wahrnehmung der Aufgaben und in dringenden Fällen verlassen" darf. Indem der frühere Soldat diese real vorhandenen Erkundigungsmöglichkeiten nicht nutzte, hat er jedenfalls nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare getan, um einen Verbotsirrtum zu vermeiden.
[32] Auch soweit sich der frühere Soldat in einem – vermeidbaren – Verbotsirrtum befand, ändert dies nichts daran, dass er fahrlässig seine Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 2 SG) und seine Kameradschaftspflicht (§ 12 Satz 2 SG) gegenüber dem Zeugen E. verletzt hat. Allerdings kann das Gericht bei einem vermeidbaren Verbotsirrtum das Disziplinarmaß nach den Grundsätzen des § 17 Satz 2 StGB mildern (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Februar 1980 – BVerwG 2 WD 44.79 – und Beschluss vom 14. Dezember 1983 – BVerwG 2 WDB 13.83 –; Scherer/Alff, a. a. O., 6. Aufl. 1988 und 7. Aufl. 2003 jeweils § 23 RNr. 9).
[33] Über die Art und die Höhe der angesichts des festgestellten Dienstvergehens erforderlichen Disziplinarmaßnahme hat der Senat nicht (mehr) zu befinden, da das Truppendienstgericht eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme nicht für geboten gehalten hat, sodass deshalb zugunsten des früheren Soldaten das Verschlechterungsverbot eingreift, das eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme vorliegend ausschließt.