Bundesgerichtshof
BGH, Beschluss vom 7. 2. 1977 – VII ZB 22/76 (lexetius.com/1977,3)
[1] Gründe: Die Beklagte wurde durch das am 6. Mai 1976 zugestellte Urteil des Landgerichts vom 17. März 1976 zur Zahlung von 7.254,55 DM nebst Zinsen verurteilt. Sie beantragte am 4. Mai 1976 die Bewilligung des Armenrechts für die Berufung gegen das Urteil. Das Oberlandesgericht verweigerte durch Beschluß vom 24. Mai 1976 das Armenrecht mangels hinreichender Erfolgsaussicht. Der Beschluß ging dem Verfahrensbevollmächtigten der Beklagten am 14. Juni 1976 zu. Die Beklagte legte am 22. Juli 1976 Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist.
[2] Das Oberlandesgericht lehnte die Wiedereinsetzung durch Beschluß vom 29. September 1976 ab. Die dagegen formgemäß und fristgemäß eingelegte sofortige Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.
[3] 1. Die Beklagte hat glaubhaft gemacht, ihr Bevollmächtigter Rechtsanwalt U. habe, nachdem ihm der das Armenrecht versagende Beschluß am 14. Juni 1976 zugegangen war, am 18. Juni 1976 bei den beim Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwälten S. zur W., ihren jetzigen Prozeßbevollmächtigten, fernmündlich angefragt, ob sie zur Vertretung der Beklagten im Berufungsverfahren bereit seien, und nach deren Zusage seine Handakten an diese "zur weiteren Veranlassung" geschickt. Die Sekretärin des Rechtsanwalts U. habe bei Übersendung der Handakten versehentlich eine falsche Anschrift ihrer Prozeßbevollmächtigten verwendet. Als die Beklagte sich unmittelbar an ihre Prozeßbevollmächtigten gewandt habe, am 9. Juli 1976 in deren Büro gewesen sei und hierbei den Armenrechtsbeschluß des Oberlandesgerichts vom 24. Mai 1976 vorgelegt habe, seien die Handakten noch nicht eingegangen gewesen. Ihre Prozeßbevollmächtigten hätten Rechtsanwalt U. am 15. Juli 1976 auf das Fehlen der Handakten fernmündlich hingewiesen. Diese seien schließlich erst am 22. Juli 1976 bei ihren Prozeßbevollmächtigten eingegangen.
[4] 2. Nach diesem Sachverhalt kann der Beklagten keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.
[5] a) Zutreffend geht das Oberlandesgericht davon aus, daß die Beklagte die Wiedereinsetzung nicht innerhalb der in § 234 Abs 1 ZPO bestimmten zweiwöchigen Frist beantragt hat. Mit der Versagung des Armenrechts mangels hinreichender Erfolgsaussicht ist die Mittellosigkeit als Hinderungsgrund im Sinne des § 233 ZPO weggefallen. Die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag beginnt in diesen Fällen, nachdem der Partei der Armenrechtsbeschluß mitgeteilt worden und eine kurze, in der Regel nach wenigen Tagen zu bemessende Frist verstrichen ist, in der die Partei sich entschließen kann, ob sie das Rechtsmittel auf eigene Kosten einlegen will (ständige Rechtsprechung, vergl BGHZ 26, 99, 100).
[6] Danach begann hier die Frist spätestens am 18. Juni 1976. An diesem Tage hat Rechtsanwalt U. als anwaltlicher Vertreter der Beklagten den Auftrag, Berufung einzulegen, und seine Handakten an die jetzigen Prozeßbevollmächtigten der Beklagten abgeschickt. Der Fristbeginn ist auch nicht etwa durch die verzögerte Postbeförderung des Auftrags infolge der falschen Adressierung hinausgeschoben worden. Dieser neue Umstand hat weder etwas mit der Kostenarmut, die durch den Armenrechtsbeschluß als Hindernis im Sinne des § 233 ZPO weggefallen war, noch mit der abgelaufenen und tatsächlich auch ausgenutzten Frist zur Entschließung, auf eigene Kosten Berufung einzulegen, zu tun.
[7] Die Antragsfrist war daher am 2. Juli 1976 abgelaufen und der am 22. Juli 1976 bei Gericht eingegangene Wiedereinsetzungsantrag verspätet.
[8] b) Offen kann hier bleiben, ob auch gegen die Versäumung dieser zweiwöchigen Antragsfrist (§ 234 Abs 1 ZPO), die keine Notfrist ist, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in entsprechender Anwendung des § 233 ZPO zulässig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einem Fall, in dem das Armenrecht bewilligt worden war, gemäß Art 3 und 20 GG (Gleichheitsgrundsatz und Sozialstaatsgrundsatz) anerkannt, weil die arme Partei regelmäßig, um ihr Rechtsmittel noch anbringen zu können, auf den Weg der Wiedereinsetzung verwiesen ist und der durch die Armenrechtsbewilligung herbeigeführte vergleichbare Zustand mit den Verhältnissen einer vermögenden Partei die entsprechende Anwendung des § 233 ZPO auch für die sich anschließende Frist für den Wiedereinsetzungsantrag gebietet (BVerfGE 22, 83 = NJW 1967, 1267). Selbst wenn diese Ausnahme der entsprechenden Anwendung des § 233 ZPO auch in Fällen der Armenrechtsversagung mangels hinreichender Erfolgsaussicht gelten sollte, könnte hier der Beklagten Wiedereinsetzung nicht gewährt werden. Denn die Versäumung der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag beruht nicht auf einem unabwendbaren Zufall. Sie hätte vielmehr vermieden werden können, wenn der anwaltliche Vertreter der Beklagten, für dessen Verschulden sie einzustehen hat (§ 232 Abs 2 ZPO), die gebotene Sorgfalt bei Erteilung des Berufungsauftrags aufgewandt hätte. Dazu hat es nämlich nicht genügt, den Auftrag und die Handakten innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist zur Post zu geben. Vielmehr hätte er sich durch rechtzeitige Auftragsbestätigung, notfalls nach fernmündlicher Rückfrage, vergewissern müssen, ob sein Auftrag bei dem beauftragten Anwalt eingegangen ist und dementsprechend auch dort die erforderliche Fristenkontrolle durchgeführt wird. Diese Sorgfalt hat Rechtsanwalt U. nicht angewandt.