Bundesarbeitsgericht
Mutterschutz – Kündigung und Wahrung der Mitteilungspflicht nach § 9 Abs. 1 MuSchG

BAG, Urteil vom 26. 9. 2002 – 2 AZR 392/01 (lexetius.com/2002,2861)

[1] Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 19. Dezember 2000 – 8 Sa 872/00 – aufgehoben.
[2] Die Berufung des Beklagten gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts Regensburg vom 27. Juli 2000 – 3 Ca 3749/99 – wird zurückgewiesen.
[3] Der Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
[4] Tatbestand: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung und über Annahmeverzugsansprüche der Klägerin für den Zeitraum ab 5. Dezember 1999 bis 31. Mai 2000.
[5] Die am 21. November 1979 geborene, ledige Klägerin war seit dem 25. Oktober 1999 beim Beklagten als Zahnarzthelferin gegen eine monatliche Bruttovergütung von 2.368,00 DM beschäftigt.
[6] Mit Schreiben vom 19. November 1999, der Klägerin am 20. November 1999 zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis während der vereinbarten Probezeit zum 4. Dezember 1999.
[7] Anläßlich einer ärztlichen Vorsorgeuntersuchung wurde am Freitag, dem 3. Dezember 1999, bei der Klägerin eine Schwangerschaft in der achten Schwangerschaftswoche festgestellt.
[8] Am 8. Dezember 1999 rief die Klägerin in der Praxis des Beklagten an und teilte ihre Schwangerschaft mit. Der Beklagte persönlich erlangte erstmals am 9. Dezember 1999 Kenntnis von der Schwangerschaft.
[9] Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Kündigung sei nach § 9 MuSchG unwirksam. Sie hat die Auffassung vertreten, sie habe unverschuldet die zweiwöchige Mitteilungspflicht überschritten und ihren Arbeitgeber unverzüglich informiert. Die Feststellung ihrer Schwangerschaft habe sie völlig überrascht und in eine verzweifelte Lage versetzt. Sie habe nicht gewußt, wie sie die Schwangerschaft ihrem Freund und ihrer Mutter mitteilen könne. Auf Grund ihrer unregelmäßigen Periode seien keine Schwangerschaftssymptome früher erkennbar gewesen.
[10] Die Klägerin hat beantragt, 1. festzustellen, daß die Kündigung des Beklagten vom 19. November 1999 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst hat, 2. den Beklagten zu verurteilen, an sie 2.052,27 DM brutto (Restvergütung Dezember 1999) abzüglich 493,29 DM netto nebst 10, 25 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Januar 2000 zu bezahlen, 3. den Beklagten weiter zu verurteilen, an sie 2.368,00 DM (Januar 2000) abzüglich 566,37 DM netto nebst 10, 25 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Februar 2000 zu bezahlen, 4. den Beklagten weiter zu verurteilen, an sie 2.368,00 DM brutto (Februar 2000) abzüglich 529,83 DM netto nebst 10, 25 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. März 2000 zu bezahlen, 5. den Beklagten weiter zu verurteilen, an sie 2.368,00 DM brutto (März 2000) abzüglich 566,37 DM netto nebst 10, 25 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. April 2000 zu bezahlen, 6. den Beklagten weiter zu verurteilen, an sie 2.368,00 DM brutto (April 2000) abzüglich 548,10 DM netto nebst 10, 25 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Mai 2000 zu bezahlen, 7. den Beklagten weiter zu verteilen, an sie 2.368,00 DM brutto (Mai 2000) abzüglich 566,37 DM netto nebst 10, 25 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Juni 2000 zu bezahlen.
[11] Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags die Ansicht vertreten, die Klägerin habe weder die Mitteilungsfrist unverschuldet versäumt noch habe sie die fehlende Mitteilung unverzüglich nachgeholt. Nach der Feststellung der Schwangerschaft durch die behandelnde Frauenärztin sei es ihr noch möglich gewesen, ihn innerhalb der zweiwöchigen, am 6. Dezember 1999 ablaufenden Frist hiervon in Kenntnis zu setzen. Die Hemmung der Klägerin, die Schwangerschaft ihrem Freund und ihren Eltern mitzuteilen, sei für das Arbeitsverhältnis ohne Bedeutung. Da das Arbeitsverhältnis wirksam beendet worden sei, stünden der Klägerin auch keine Zahlungsansprüche aus Annahmeverzug zu.
[12] Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung des Beklagten abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
[13] Entscheidungsgründe: Die Revision ist begründet.
[14] A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei durch die Kündigung des Beklagten wirksam beendet worden, weshalb der Klägerin auch kein Annahmeverzugsanspruch zustehe. Die Kündigung verstoße nicht gegen § 9 Abs. 1 MuSchG. Die Klägerin habe schuldhaft die Frist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG versäumt und den Beklagten zu spät von ihrer Schwangerschaft in Kenntnis gesetzt. Sie hätte ihn noch innerhalb der zweiwöchigen gesetzlichen Mitteilungspflicht informieren können, die erst am Montag, dem 6. Dezember 1999, abgelaufen sei. Das reine Überraschungsmoment genüge nicht, ihr eine unverschuldete Fristversäumung zuzugestehen.
[15] B. Dem folgt der Senat nicht. Die Klage ist begründet. Die Kündigung vom 19. November 1999 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Sie ist nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG unzulässig. Dementsprechend stehen der Klägerin auch die geltend gemachten Annahmeverzugsansprüche für den Zeitraum 5. Dezember 1999 bis 31. Mai 2000 gemäß § 615 Satz 1 BGB zu.
[16] I. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ist die Kündigung gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft unzulässig, wenn dem Arbeitgeber die Schwangerschaft zur Zeit der Kündigung bekannt war oder innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird; das Überschreiten dieser Frist ist unschädlich, wenn es auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.
[17] 1. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 20. November 1999 schwanger. Diese Schwangerschaft war jedoch dem Beklagten weder bekannt noch hat die Klägerin sie ihm innerhalb der Zwei-Wochen-Frist, dh. bis spätestens zum 6. Dezember 1999, mitgeteilt. Die Mitteilung erfolgte vielmehr erst am 8. Dezember 1999. Der Beklagte persönlich erhielt von ihr erst am 9. Dezember 1999 Kenntnis.
[18] 2. Diese Fristüberschreitung ist aber unschädlich. Sie beruht auf einem von der Klägerin nicht zu vertretenden Grund.
[19] a) Die Fristüberschreitung ist von der schwangeren Frau dann iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz MuSchG zu vertreten, wenn sie auf einem gröblichen Verstoß gegen das von einem ordentlichen und verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten zurückzuführen ist ("Verschulden gegen sich selbst" – Senat 6. Oktober 1983 – 2 AZR 368/82BAGE 43, 331; 13. Juni 1996 – 2 AZR 736/95BAGE 83, 195; zuletzt 16. Mai 2002 – 2 AZR 730/00 – zVv.). Dabei kommt es nicht darauf an, durch welchen Umstand die schwangere Frau an der Fristeinhaltung gehindert ist (Senat 13. Juni 1996 – 2 AZR 736/95 – aaO). Dementsprechend kann eine unverschuldete Versäumung der Zwei-Wochen-Frist nicht nur vorliegen, wenn die Frau während dieser Frist keine Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, sondern auch dann, wenn sie zwar ihre Schwangerschaft beim Zugang der Kündigung kennt oder während des Laufs der Zwei-Wochen-Frist von ihr erfährt, aber durch sonstige Umstände an der rechtzeitigen Mitteilung unverschuldet gehindert ist (Senat 13. Juni 1996 – 2 AZR 736/95 – aaO; APS/Rolfs § 9 MuSchG Rn. 38). Dies folgt aus Art. 6 Abs. 4 GG, der den bindenden Auftrag an den Gesetzgeber enthält, jeder Mutter Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft angedeihen zu lassen (BVerfG 13. November 1979 – 1 BvL 24/77BVerfGE 52, 357). Hiernach kann es keinen erheblichen Unterschied machen, ob die Frau erst einen Tag nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG oder kurz vor dem Ablauf dieser Frist von ihrer Schwangerschaft erfährt und dann schuldlos an einer rechtzeitigen Mitteilung gehindert ist.
[20] b) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts hat die Klägerin die Frist unverschuldet versäumt. Sie hat nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts erst während des Laufs der zweiwöchigen Mitteilungspflicht am 3. Dezember 1999 von ihrer Schwangerschaft erfahren. Daß sie den Beklagten nicht in der verbliebenen Zeit bis zum Montag, dem 6. Dezember 1999, hiervon in Kenntnis gesetzt hat, führt nicht zum Verlust des gesetzlichen Kündigungsschutzes, weil ihr kein schuldhaftes Verhalten anzulasten ist.
[21] Zwar führt der Umstand, daß die Frau während des Laufs der gesetzlichen Mitteilungsfrist von ihrer Schwangerschaft erfährt, nicht automatisch zu einer entsprechenden Verlängerung der Mitteilungsfrist um den bereits abgelaufenen Zeitraum (so aber ArbG Kassel 22. Februar 1980 – 4 Ca 79/80 – DB 1980, 790; ArbG Köln 8. Oktober 1981 – 5 Ca 1559/80 – DB 1982, 441; dagegen auch APS/Rolfs § 9 MuSchG Rn. 38). Die Schwangere kann aber, sofern die Unkenntnis von ihrer Schwangerschaft von ihr nicht zu vertreten ist, von der Möglichkeit nach § 9 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz MuSchG Gebrauch machen (APS/Rolfs § 9 MuSchG Rn. 38; Buchner/Becker MuSchG 6. Aufl. § 9 Rn. 99; Zmarzlik/Zipperer/Viethen MuSchG 8. Aufl. § 9 Rn. 38). Im Hinblick auf die besonderen Anforderungen, die Art. 6 Abs. 4 GG stellt, beeinträchtigt die dadurch bewirkte faktische Fristverlängerung die Interessen des Arbeitgebers nicht in entscheidendem Maße. Vielmehr zeigen die Regelungen des Mutterschutzgesetzes, daß der Gesetzgeber in Umsetzung des Art. 6 Abs. 4 GG der schwangeren Frau mit der Einräumung der zweiwöchigen Mitteilungsfrist einen ausreichenden zeitlichen Handlungsspielraum verschaffen wollte, innerhalb dessen eine nachträgliche Mitteilung regelmäßig möglich sein sollte (KR-Pfeiffer 6. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 56 a; Senat 13. Juni 1996 – 2 AZR 736/95 – aaO). Die Einräumung einer – zumindest kurzen – Überlegungsfrist erscheint deshalb im Hinblick auf das Ziel des Gesetzes, die werdende Mutter so zu schützen, daß sie ihr Kind ungestört zur Welt bringen kann, angezeigt. Die Regelungen des Mutterschutzgesetzes wollen der werdenden Mutter nicht nur die wirtschaftlichen Sorgen durch Erhaltung des Arbeitsplatzes nehmen. Nach Möglichkeit sollen auch alle psychischen Belastungen für die Mutter, die mit der Kündigung eines Arbeitsplatzes verbunden sind (BVerwG 21. Oktober 1970 – V C 34/69BVerwGE 36, 160), vermieden werden. Berücksichtigt man dieses Ziel und die Ausgestaltung der gesetzlichen Mitteilungsfrist, so erscheint es zwingend, auch den Frauen, die noch während des Laufs der gesetzlichen Mitteilungspflicht von ihrer Schwangerschaft Kenntnis erlangen, einen gewissen Überlegungszeitraum, auch um einen qualifizierten juristischen Rat einzuholen, zuzubilligen. Andernfalls würde eine solche Überlegungsfrist praktisch auf "Null" reduziert und leerlaufen, wenn die schwangere Arbeitnehmerin beispielsweise erst am letzten Tag der gesetzlichen Mitteilungsfrist von ihrer Schwangerschaft erfährt und den Arbeitgeber nicht sofort hiervon in Kenntnis setzt.
[22] Räumt man der schwangeren Frau grundsätzlich eine gewisse Überlegungsfrist in diesen Fällen ein und berücksichtigt hier weiter die auf Grund der für die Klägerin überraschenden Feststellung ihrer Schwangerschaft und der daraus resultierenden besonderen Situation im Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrem Freund nachvollziehbaren psychischen Belastungen, so kann die Versäumung der zweiwöchigen gesetzlichen Mitteilungsfrist vorliegend nur als unverschuldet qualifiziert werden.
[23] 3. Die Klägerin hat die Mitteilung über ihre Schwangerschaft unverzüglich nachgeholt.
[24] Die Mitteilung hat gegenüber dem Arbeitgeber zu erfolgen (Senat 27. Oktober 1983 – 2 AZR 214/82AP MuSchG 1968 § 9 Nr. 13). Der Beklagte selbst hat – wie das Landesarbeitsgericht bindend festgestellt hat – zwar erst am 9. Dezember 1999 von der am 3. Dezember 1999 ärztlich festgestellten Schwangerschaft der Klägerin erfahren. Auch wenn man hierauf abstellt, hat die Klägerin damit aber die Mitteilung noch unverzüglich nachgeholt. Nach der Rechtsprechung des Senats kann regelmäßig ein Zeitraum von einer Woche noch als ausreichend für ein unverzügliches Nachholen der Mitteilung angesehen werden (vgl. insbesondere Senat 27. Oktober 1983 – 2 AZR 214/82 – aaO; 6. Oktober 1983 – 2 AZR 368/82BAGE 43, 331; APS/Rolfs § 9 KSchG Rn. 39).
[25] II. Da das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien über den 4. Dezember 1999 hinaus fortbesteht, steht der Klägerin auch die begehrte Forderung auf Zahlung ihrer Arbeitsvergütung bis einschließlich Mai 2000 in der zwischen den Parteien unstreitigen Höhe nebst der anteiligen Zinsen nach § 615 Satz 1, § 286 Abs. 1, § 288 Abs. 2 BGB zu. Der Beklagte hat der Klägerin nämlich keinen funktionsfähigen Arbeitsplatz mehr zur Verfügung gestellt und ihr Arbeit zugewiesen, weshalb er sich in Annahmeverzug (§ 296 BGB) befand.