Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Beschluss vom 25. 11. 2004 – 1 BvR 2459/04 (lexetius.com/2004,2841)

[1] In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn W …, – Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Holger Schmidt-Brücken und Koll., Heidelberger Landstraße 202, 64297 Darmstadt – gegen a) das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. Juli 2004 – 7 AZR 589/03 –, b) das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 2. Juli 2003 – 8 Sa 157/03 –, c) das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 17. Dezember 2002 – 4 Ca 283/02 – hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Hömig, Bryde, Gaier gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 25. November 2004 einstimmig beschlossen:
[2] Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
[3] Gründe: A. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob eine tarifvertragliche Altersgrenze von 60 Jahren für die Arbeitsverhältnisse von Piloten mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist.
[4] Der 1942 geborene Beschwerdeführer war als Flugzeugführer (Pilot) bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung eine tarifvertragliche Altersgrenzenregelung Anwendung, nach der das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monats endet, in dem der Mitarbeiter das 60. Lebensjahr vollendet. Mit seiner Klage im Ausgangsverfahren machte der Beschwerdeführer – in allen Instanzen erfolglos – geltend, dass die tarifliche Altersgrenzenregelung sein Arbeitsverhältnis nicht beendet habe.
[5] Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG durch die arbeitsgerichtlichen Urteile. Das Bundesarbeitsgericht habe die einschlägige tarifliche Regelung nicht effektiv darauf hin kontrolliert, ob ihr ein sachlicher Grund tatsächlich zugrunde liege. Im Ergebnis führe die Rechtsanwendung des Bundesarbeitsgerichts dazu, dass die Tariffreiheit der Tarifvertragsparteien die Berufsfreiheit der betroffenen Arbeitnehmer vollkommen verdränge.
[6] B. Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.
[7] I. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Sie wirft keine Fragen auf, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen oder die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind (vgl. BVerfGE 90, 22 [24 f.]).
[8] Die Bedeutung des Art. 12 Abs. 1 GG bei der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 84, 133 [146 ff.]; 85, 360 [372 ff.]; 92, 140 [150 ff.]; 97, 169 [175 ff.]). Auch die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Zulässigkeit von Altersgrenzenregelungen sind schon entwickelt (vgl. BVerfGE 9, 338 [344 ff.]; 64, 72 [82 ff.]; 103, 172 [182 ff.]).
[9] II. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
[10] Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Insbesondere das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts lässt einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers nicht erkennen.
[11] 1. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Tarifvertragsparteien im selben Umfang wie der Gesetzgeber bei ihrer Normsetzung an die Grundrechte gebunden sind, lässt sich eine Verletzung von Verfassungsrecht nicht feststellen. Art. 12 Abs. 1 GG ist nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die hier streitige tarifliche Altersgrenzenregelung für Piloten nicht verletzt.
[12] 2. Art. 12 Abs. 1 GG garantiert die freie Wahl des Arbeitsplatzes und schützt auch das Interesse des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes (vgl. BVerfGE 97, 169 [175, 176]). Das gewährt dem Arbeitnehmer zwar keinen unmittelbaren Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition. Insofern obliegt dem Staat aber eine aus dem Grundrecht folgende Schutzpflicht (vgl. BVerfGE 84, 133 [146 f.]; 85, 360 [372 f.]; 92, 140 [150]; 97, 169 [175]).
[13] Bei privatrechtlichen Regelungen, die der Vertragsfreiheit Grenzen setzen, geht es um den Ausgleich widerstreitender Interessen, die regelmäßig beide grundrechtlich verankert sind. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfGE 89, 214 [232]; 97, 169 [176]).
[14] 3. Nach diesen Maßstäben lässt sich eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts nicht feststellen. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Bundesarbeitsgericht die einschlägige tarifliche Altersgrenzenregelung für rechtswirksam gehalten hat.
[15] a) Durch tarifliche Altersgrenzenregelungen, die auf ein Arbeitsverhältnis normativ oder aufgrund einzelvertraglicher Bezugnahme Anwendung finden, wird die Freiheit der Berufsausübung der betroffenen Arbeitnehmer insofern beeinträchtigt, als das von ihnen aufgrund privatautonomen Willensentschlusses vereinbarte Arbeitsverhältnis bei Erreichen eines bestimmten Lebensalters endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Da der Arbeitnehmer sich gegen diese Beendigung nicht durch eine Kündigungsschutzklage schützen kann, fordert Art. 12 GG einen anderweitigen Schutz des Arbeitnehmers, durch den – wie sonst bei Ausspruch einer Kündigung (vgl. § 1 Abs. 2 KSchG) – sichergestellt wird, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf einem legitimen Grund beruht, der gerichtlicher Prüfung unterliegt. Dieser Schutz erfolgt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dadurch, dass solche Altersgrenzenregelungen als Befristungsvereinbarungen anzusehen sind, die nur rechtswirksam sind, wenn sie auf einem sachlichen Grund beruhen, dessen Vorliegen gerichtlich kontrolliert werden kann (vgl. BAGE 88, 118 [123 f.]; 102, 65 [69 f.]).
[16] b) Eine Altersgrenze ist eine subjektive Zulassungsbeschränkung (vgl. BVerfGE 9, 338 [345]; 64, 72 [82]). Subjektive Zulassungsbeschränkungen sind zulässig, wenn sie als Voraussetzung zur ordnungsgemäßen Erfüllung des Berufes oder zum Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsgutes, das der Freiheit des Einzelnen vorgeht, erforderlich sind. Zu dem angestrebten Zweck dürfen sie nicht außer Verhältnis stehen und keine übermäßigen, unzumutbaren Belastungen enthalten (vgl. nurBVerfGE 64, 72 [82]).
[17] c) Diesen Anforderungen wird eine (tarifliche) Altersgrenze für Piloten, die mit Vollendung des 60. Lebensjahres die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Folge hat, gerecht.
[18] aa) Die Altersgrenze dient einem besonders wichtigen Gemeinschaftsgut, nämlich dem Gesundheitsschutz einer Vielzahl von Personen, die bei einem Versagen des Piloten aufgrund von Ausfallerscheinungen gefährdet sein könnten.
[19] Altersgrenzen, die die Berufsausübung im höheren Alter einschränken, dienen auch dazu, die Gefährdungen, die von älteren, nicht mehr voll leistungsfähigen Berufstätigen ausgehen können, einzudämmen. Das Versagen eines Piloten hätte Folgen für eine Vielzahl von Menschen. Deshalb ist es notwendig, den Eintritt etwaiger Gefahrenlagen so weit wie möglich zu verhindern.
[20] Die Tätigkeit eines Piloten stellt hohe Anforderungen an die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter größer wird (vgl. BVerfGE 9, 338 [346]; 64, 72 [82]). Der Schutz von Leben und Gesundheit stellt ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut dar, das selbst erhebliche Einschränkungen der Berufsfreiheit rechtfertigen kann.
[21] bb) Solche Altersgrenzenregelungen genügen auch den Anforderungen, die aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen (vgl. BVerfGE 9, 338 [345 f.]; 64, 72 [82 f.]). Sie sind zur Sicherung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit der Piloten geeignet und erforderlich. Die Tarifvertragsparteien sind – im Rahmen der ihnen verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumten Gestaltungsbefugnis (vgl. BVerfGE 94, 268 [283]; 103, 293 [304]) – nicht darauf beschränkt, jeweils im Einzelfall ab Vollendung des 60. Lebensjahres eine individuelle Prüfung der Leistungsfähigkeit zur Sicherstellung dieses Zieles vorzusehen. Die Tarifvertragsparteien können – ebenso wie dies der Gesetzgeber dürfte – auf der Grundlage von Erfahrungswerten eine generalisierende Regelung erlassen (vgl. BVerfGE 9, 338 [347]; 64, 72 [85]).
[22] Es ist nichts dafür ersichtlich, dass das Bundesarbeitsgericht von einer effektiven Kontrolle des Sachgrundes bei tariflichen Altersgrenzenregelungen abgesehen hätte. Tarifvertragliche Altersgrenzenregelungen werden vom Bundesarbeitsgericht als unwirksam verworfen, wenn ein sachlicher Grund für die Altersgrenze tatsächlich nicht erkennbar ist (vgl. zur Unwirksamkeit einer tariflichen Altersgrenze von 55 Jahren für das Kabinenpersonal-" Stewardessen" BAGE 102, 65 [70 ff.]).
[23] 4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
[24] Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).