Bundesgerichtshof
BGB § 823; SGB VII § 105, § 106
Verletzt ein Schüler durch einen Feuerwerkskörper, den er während einer Unterrichtspause auf dem Schulhof in Richtung einer Gruppe von Schülern wirft, einen Mitschüler, so kann das als schulbezogen gewertet werden.

BGH, Urteil vom 30. 3. 2004 – VI ZR 163/03 (lexetius.com/2004,852)

[1] Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2004 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr für Recht erkannt:
[2] Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. April 2003 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
[3] Tatbestand: Die Parteien sind Schüler eines Gymnasiums. Sie streiten über die Verpflichtung des Beklagten, der Klägerin Schadensersatz wegen einer Körperverletzung zu leisten.
[4] Am 12. Januar 2000 hielten sich die Parteien und weitere Schüler während einer Unterrichtspause auf dem Schulhof auf. Der damals 13jährige Beklagte zündete einen Feuerwerkskörper und warf ihn in Richtung einer Gruppe von Schülern. Der Feuerwerkskörper detonierte in der Nähe der Klägerin. Diese begab sich unmittelbar im Anschluss daran in ärztliche Behandlung bei einem HNO-Arzt wegen Beeinträchtigung ihres Gehörs.
[5] Die Klägerin trägt vor, der Beklagte habe einen Böller mit brennendem Zünder in Richtung der Köpfe zweier Mädchen, eine davon sie selbst, geworfen. Er habe vorsätzlich gehandelt, da er ihre Verletzung zumindest billigend in Kauf genommen habe. Der Beklagte trägt vor, er habe die Klägerin nicht verletzen, sondern eine andere Gruppe von Mädchen erschrecken wollen.
[6] Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung hatte keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
[7] Entscheidungsgründe: I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin keinen Anspruch gegen den Beklagten. Ein solcher bestehe wegen der Haftungsbeschränkung der §§ 105, 106 Abs. 1 SGB VII nur, wenn der Beklagte vorsätzlich gehandelt habe. Dies sei nicht der Fall.
[8] Die Beschränkung der Haftung setze voraus, daß die Verletzungshandlung "schulbezogen" gewesen sei. Sie müsse auf der typischen Gefährdung aus dem engen schulischen Kontakt beruhen und deshalb einen inneren Bezug zum Besuch der Schule aufweisen. Schulbezogen seien Verletzungshandlungen, die aus Spielereien, Neckereien und Raufereien unter den Schülern hervorgegangen seien, ebenso Verletzungen, die in Neugier, Sensationslust und dem Wunsch, den Mitschülern zu imponieren, ihre Erklärung fänden. Dasselbe gelte für Verletzungshandlungen, die auf übermütigen und bedenkenlosen Verhaltensweisen in einer Phase der allgemeinen Lockerung der Disziplin – insbesondere in Pausen – beruhten.
[9] Das Werfen eines Knallkörpers in Richtung anderer Schüler während einer Unterrichtspause sei in diesem Sinne schulbezogen. Es sei durch die Übermütigkeit zu erklären, die Schüler während der Pausen auf dem Schulhof zeigten. Sie wollten dadurch imponieren, dass sie andere Schüler ärgerten und erschreckten. Das Werfen der Knallkörper sei auch kein für Schüler völlig untypisches Verhalten. Jedenfalls in der Zeit nach dem Jahreswechsel sei es nicht ungewöhnlich, daß Jugendliche Reste des Silvesterfeuerwerks "verbrauchten". Gerade die Situation in den Unterrichtspausen auf dem Schulhof reize dazu, dort die nach Silvester noch vorhandenen Knallkörper zur Explosion zu bringen.
[10] Der Beklagte habe nicht vorsätzlich gehandelt, weil keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß er eine Verletzung von Mitschülern billigend in Kauf genommen habe. Feststellbar sei lediglich, daß er den Knallkörper in Richtung einer Gruppe von Schülern geworfen habe. Dieses Verhalten sei nicht von solcher Gefährlichkeit, daß die Annahme der Billigung einer Verletzung naheliege. Im übrigen hätte sich der Vorsatz auch auf eine ernsthafte Verletzungsfolge erstrecken müssen.
[11] II. Die Erwägungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Der Ausschluß der Haftung des Beklagten für die Folgen des vorliegenden Schulunfalls ergibt sich aus den §§ 104 Abs. 1, 105 Abs. 1 SGB VII in Verbindung mit § 106 Abs. 1 Nr. 1 und § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII. Danach ist der Schüler einer allgemeinbildenden Schule, der während des Schulbesuchs einen Schulunfall verursacht, indem er einen Mitschüler verletzt, zum Ersatz des Personenschadens nach dem Recht der unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB) nur verpflichtet, wenn er den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat.
[12] 1) Eine vorsätzliche Herbeiführung des hier in Frage stehenden Unfalls durch den Beklagten hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint. Dies nimmt die Revision hin. Sie wendet sich auch nicht gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, daß sich ein Vorsatz, der zu einer Entsperrung des Haftungsausschlusses führen könnte, auch auf eine ernsthafte Verletzungsfolge hätte erstrecken müssen. Wie der Senat bereits entschieden hat, haftet der Schädiger dem geschädigten Mitschüler gegenüber auch nach der Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch nämlich nur, wenn sein Vorsatz auch den Eintritt eines ernstlichen Personenschadens umfaßt hat (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2003 – VI ZR 34/02BGHZ 154, 11; vgl. auch BAG, VersR 2003, 740, 741).
[13] 2) Die Revision wendet sich jedoch gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, daß hier die Voraussetzungen für einen Haftungsausschluß vorliegen. Sie macht geltend, die Verletzungshandlung sei nicht "schulbezogen", sondern nur "bei Gelegenheit" des Schulbesuchs verübt worden. Dem kann nach der Rechtsprechung des Senats nicht gefolgt werden. Es liegt eine schulbezogene Verletzungshandlung des Beklagten vor, die nach § 105 Abs. 1 SGB VII in Verbindung mit § 106 Abs. 1 Nr. 1 und § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII zu einem Ausschluß seiner Haftung führt.
[14] Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats ist, wenn ein Schüler einen anderen körperlich verletzt, für seine Befreiung von der Haftung darauf abzustellen, ob die Verletzungshandlung "schulbezogen" war, d. h. ob sie auf der typischen Gefährdung aus engem schulischen Kontakt beruht und deshalb einen inneren Bezug zum Besuch der Schule aufweist oder ob sie nur "bei Gelegenheit" des Schulbesuchs erfolgt ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 67, 279, 281 ff.; vom 10. März 1987 – VI ZR 123/86VersR 1987, 781, 782; vom 14. Juli 1987 – VI ZR 18/87VersR 1988, 167 f. und vom 28. April 1992 – VI ZR 284/91VersR 1992, 854, 855). Schulbezogen im Sinne dieser Rechtsprechung sind insbesondere Verletzungshandlungen, die aus Spielereien, Neckereien und Raufereien unter den Schülern hervorgegangen sind, ebenso Verletzungen, die in Neugier, Sensationslust und dem Wunsch, den Schulkameraden zu imponieren, ihre Erklärung finden; dasselbe gilt für Verletzungshandlungen, die auf übermütigen und bedenkenlosen Verhaltensweisen in einer Phase der allgemeinen Lockerung der Disziplin – insbesondere in den Pausen oder auf Klassenfahrten oder nach Beendigung des Unterrichts oder während der Abwesenheit der Aufsichtspersonen – beruhen (vgl. Senatsurteile BGHZ 67, 279, 282 f.; vom 28. Februar 1978 – VI ZR 91/77VersR 1978, 441; vom 10. März 1987 – VI ZR 123/86 – aaO und vom 14. Juli 1987 – VI ZR 18/87 – aaO; vgl. auch BGH, Urteil vom 27. April 1981 – III ZR 47/80VersR 1981, 849, 850). Mit Blick darauf, daß der Haftungsausschluß bei Schulunfällen dazu bestimmt ist, den Schulfrieden und das ungestörte Zusammenleben von Lehrern und Schülern in der Schule zu gewährleisten, erscheint es geboten, das Haftungsprivileg nicht eng auszulegen (vgl. Senatsurteile vom 20. November 1979 – VI ZR 238/78VersR 1980, 164, 165; vom 14. Juli 1987 – VI ZR 18/87 – aaO, 168 und vom 28. April 1992 – VI ZR 284/91 – aaO). Die innere schulische Verbundenheit von Schädiger und Verletztem, die in dem Unfall zum Ausdruck kommen muß, erfordert allerdings stets, daß die konkrete Verletzungshandlung durch die Besonderheiten des Schulbetriebs geprägt wird, was in der Regel eine engere räumliche und zeitliche Nähe zu dem organisierten Betrieb der Schule voraussetzt (vgl. Senatsurteil vom 28. April 1992 – VI ZR 284/91 – aaO).
[15] Die vorstehend wiedergegebenen Entscheidungen sind zwar zu § 637 Abs. 1 RVO ergangen. Die in ihnen aufgestellten Grundsätze gelten aber in gleicher Weise nach der Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch, da sich insoweit keine inhaltlichen Änderungen ergeben haben, die zu einer Neubewertung führen.
[16] Das Berufungsgericht hat diese Grundsätze beachtet und ohne Rechtsfehler auf den vorliegenden Fall angewendet. Seine Wertung, die konkrete Verletzungshandlung sei durch den Schulbetrieb geprägt und demgemäß schulbezogen gewesen, ist nicht zu beanstanden. Dafür spricht schon maßgeblich der Umstand, daß sich der Vorfall während einer Unterrichtspause auf dem Schulhof ereignete und somit eine enge räumliche und zeitliche Nähe zu dem organisierten Betrieb der Schule bestand. Aber auch gegen die tatrichterliche Würdigung, das Verhalten des Beklagten sei durch die Übermütigkeit zu erklären, die Schüler während der Pausen auf dem Schulhof zeigten, und durch den Wunsch, seinen Mitschülern zu imponieren, ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Diese Würdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht nach § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Entgegen der Rüge der Revision ist insoweit ein Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze nicht zu erkennen; die Würdigung des Berufungsgerichts entspricht vielmehr der Lebenserfahrung und den Überlegungen, die der oben dargestellten Rechtsprechung des erkennenden Senats zugrundeliegen.
[17] III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.