Bundesarbeitsgericht
Abmahnung – Verzicht auf Kündigungsrecht

BAG, Urteil vom 26. 11. 2009 – 2 AZR 751/08 (lexetius.com/2009,4327)

[1] 1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Thüringer Landesarbeitsgerichts vom 11. Dezember 2007 – 7 Sa 367/06 – aufgehoben.
[2] 2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
[3] Tatbestand: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten Kündigung.
[4] Die Beklagte betreibt ein Hotel, in dem der Kläger seit dem 27. November 1996 als Barkeeper beschäftigt war. Nachdem die Beklagte den Kläger Mitte Dezember 2005 mündlich abgemahnt hatte, sprach sie mit Schreiben vom 28. Dezember 2005 wegen der Nichtbefolgung einer Anweisung und rufschädigender Äußerungen über den Geschäftsführer und den Direktionsassistenten eine weitere Abmahnung aus. Der Kläger war ab dem 28. Dezember 2005 arbeitsunfähig.
[5] Mit Schreiben vom 29. Dezember 2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich mit der Begründung, der Kläger habe sich geschäftsschädigend gegenüber Mitarbeitern und Gästen verhalten. Sie hat die Kündigung ferner auf eine Missachtung des betrieblichen Alkoholverbots und den unbefugten, kostenlosen Ausschank von Alkohol an ehemalige Mitarbeiter gestützt. Wegen des Alkoholausschanks erstattete die Beklagte Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren nach Vernehmung zweier Zeugen ein.
[6] Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Er hat die ihm vorgeworfenen Pflichtverletzungen bestritten. Auch seien sie bereits abgemahnt worden. Mögliche kritische Äußerungen seien sachlich gerechtfertigt und durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Er habe nicht kostenlos Alkohol an Kollegen ausgegeben.
[7] Der Kläger hat beantragt festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche Kündigung vom 29. Dezember 2005 aufgelöst worden ist.
[8] Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, schon die außerordentliche Kündigung sei gerechtfertigt. Der Kläger sei mehrfach zu Recht abgemahnt worden. Am 25. Dezember 2005 habe er die Weisung ihres Geschäftsführers, das Radio lauter zu stellen, unterlaufen. Gegenüber dem vorgesetzten Direktionsassistenten habe er sich negativ und abfällig dahin geäußert, er selbst sei seit neun Jahren im Betrieb und wenn dieser dort zwei Jahre "überstehe", sei er "der King". Gegenüber zwei Gästen habe der Kläger ua. geäußert, dass sie zu Weihnachten nicht mehr zu kommen bräuchten, die finanzielle Situation sei katastrophal und das Haus bankrott. Nachdem ihr Geschäftsführer am 29. Dezember 2005 davon Kenntnis erhalten habe, dass der Kläger drei am 15. November 2005 neu eingestellte Mitarbeiter durch abträgliche Äußerungen über die Geschäftsführung und den Betrieb gezielt verunsichert habe, sei die Kündigung erfolgt. Erst Anfang Januar 2006 habe die Beklagte erfahren, dass der Kläger zwei Mitarbeitern kostenfrei alkoholische Getränke ausgegeben und damit nicht nur gegen das ihm bekannte betriebliche Alkoholverbot verstoßen, sondern ihr bewusst einen erheblichen Vermögensschaden zugefügt habe.
[9] Das Arbeitsgericht hat nach Beweisaufnahme der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
[10] Entscheidungsgründe: Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte aufgrund seiner bisherigen Feststellungen das Vorliegen eines kündigungsrelevanten Sachverhalts nicht ausschließen. Das Urteil war deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Mangels hinreichender Feststellungen war die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).
[11] I. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Beklagte könne sich nach dem Ausspruch der Abmahnungen für ihre Kündigung nicht auf vor dem 28. Dezember 2005 begangene, weitere Pflichtverletzungen des Klägers berufen.
[12] 1. Eine schwere, schuldhafte Vertragspflichtverletzung kann die außerordentliche oder ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nach § 626 Abs. 1 BGB bzw. § 1 Abs. 2 KSchG rechtfertigen. Ein Grund zur Kündigung kann nicht nur in der Verletzung einer vertraglichen Hauptleistungspflicht, sondern auch in der Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht liegen (Senat 19. April 2007 – 2 AZR 78/06 – Rn. 28, AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 77; 2. März 2006 – 2 AZR 53/05 – Rn. 21, AP BGB § 626 Krankheit Nr. 14 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 16). Dabei gilt das Prognoseprinzip. Zweck einer verhaltensbedingten Kündigung ist nicht eine Sanktion für die begangene Pflichtverletzung, sondern die Vermeidung künftiger Pflichtenverstöße – ggf. selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Die fragliche Pflichtverletzung muss sich deshalb noch für die Zukunft belastend auswirken (st. Rspr., Senat 13. Dezember 2007 – 2 AZR 818/06 – Rn. 38, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82; 31. Mai 2007 – 2 AZR 200/06 – Rn. 15, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71). Eine entsprechende Prognose ist berechtigt, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag auch künftig erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzten (Senat 23. Juni 2009 – 2 AZR 283/08 – Rn. 14; 13. Dezember 2007 – 2 AZR 818/06 – Rn. 38, aaO). Das ist häufig ungewiss. Eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzt deshalb regelmäßig eine einschlägige Abmahnung voraus. Diese dient der Objektivierung der negativen Prognose. Liegt eine solche Abmahnung vor und verletzt der Arbeitnehmer gleichwohl erneut seine vertraglichen Pflichten, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch künftig zu weiteren Vertragsstörungen kommen (Senat 23. Juni 2009 – 2 AZR 283/08 – Rn. 14; 13. Dezember 2007 – 2 AZR 818/06 – Rn. 38, aaO). Außerdem ist in Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Abmahnung als milderes Mittel einer Kündigung vorzuziehen, wenn schon durch ihren Ausspruch das Ziel, die künftige Einhaltung der Vertragspflichten zu bewirken, erreicht werden kann (Senat 23. Juni 2009 – 2 AZR 283/08 – Rn. 14).
[13] 2. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, dass der Arbeitgeber auf das Recht zum Ausspruch einer außerordentlichen oder ordentlichen Kündigung durch eine entsprechende Willenserklärung einseitig verzichten kann (Senat 2. Februar 2006 – 2 AZR 222/05 – Rn. 22 mwN, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 52; 10. November 1988 – 2 AZR 215/88 – zu II 2 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 3 = EzA BGB § 611 Abmahnung Nr. 18; BAG 13. Dezember 2007 – 6 AZR 145/07 – Rn. 24, BAGE 125, 208; KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 280). Ein solcher Verzicht ist ausdrücklich oder konkludent möglich.
[14] a) Regelmäßig liegt im Ausspruch einer Abmahnung der konkludente Verzicht auf das Recht zur Kündigung aus den in ihr gerügten Gründen. Der Arbeitgeber gibt mit einer Abmahnung zu erkennen, dass er das Arbeitsverhältnis noch nicht als so gestört ansieht, als dass er es nicht mehr fortsetzen könnte (Senat 2. Februar 2006 – 2 AZR 222/05 – Rn. 22, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 52; 10. November 1988 – 2 AZR 215/88 – zu II 2 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 3 = EzA BGB § 611 Abmahnung Nr. 18; BAG 13. Dezember 2007 – 6 AZR 145/07 – Rn. 24, BAGE 125, 208).
[15] b) Der Senat hält an dieser Rechtsprechung auch angesichts der jüngsten Kritik (Raab FS Buchner S. 704) fest. Gegen seine Auffassung wird vorgebracht, eine Abmahnung könne nur dann als konkludente Erklärung eines Kündigungsverzichts verstanden werden, wenn der Arbeitgeber gewusst oder zumindest damit gerechnet habe, er sei nicht nur zur Abmahnung, sondern auch zur Kündigung berechtigt gewesen. Angesichts der generellen Unsicherheit über die Wirksamkeit einer Kündigung lasse sich dies nicht allein aus dem Ausspruch einer Abmahnung schließen. Es könne ebenso gut sein, dass der Arbeitgeber lediglich das Risiko der Unwirksamkeit einer Kündigung nicht habe eingehen wollen.
[16] Das überzeugt nicht. Auf diese Weise wird die Existenz des Gestaltungsrechts und die materiellrechtliche Wirksamkeit seiner Ausübung in eines gesetzt. Dem fehlt im Hinblick auf §§ 133, 157 BGB die sachliche Berechtigung. Nach Maßgabe dieser Bestimmungen kommt es für das Verständnis des Inhalts einer Willenserklärung auf den objektiven Empfängerhorizont an. Der Empfänger einer Abmahnung erkennt, dass der Arbeitgeber wegen der in ihr gerügten Vorwürfe von der formal ebenfalls bestehenden – und ihm bekannten – Möglichkeit einer Kündigung gerade keinen Gebrauch macht. Aus Empfängersicht erklärt der Arbeitgeber deshalb mit der Ankündigung, (erst) im Wiederholungsfall eine Kündigung auszusprechen, stillschweigend zugleich, eben dies aufgrund der aktuell gerügten Pflichtenverstöße nicht tun zu wollen. Darin liegt sein bewusster Rechtsverzicht. Auf das dafür maßgebliche Motiv kommt es nicht an. Auch wenn der Arbeitgeber mit dem Ausspruch einer Abmahnung nur das Risiko der Unwirksamkeit einer Kündigung hat vermeiden wollen, ändert dies nichts am objektiven Inhalt seiner Erklärung.
[17] c) Treten weitere Gründe zu den abgemahnten hinzu oder werden sie erst nach dem Ausspruch der Abmahnung bekannt, sind diese vom Kündigungsverzicht nicht erfasst. Der Arbeitgeber kann sie zur Begründung einer Kündigung heranziehen und dabei auf die schon abgemahnten Gründe unterstützend zurückgreifen (Senat 2. Februar 2006 – 2 AZR 222/05 – Rn. 22 mwN, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 52; BAG 13. Dezember 2007 – 6 AZR 145/07 – Rn. 24, BAGE 125, 208). Kündigt der Arbeitgeber im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer vorausgegangenen Abmahnung, kann dies allerdings dafür sprechen, dass die Kündigung in Wirklichkeit wegen der bereits abgemahnten Pflichtverletzung erfolgt, zumal dann, wenn der Arbeitnehmer zwischen Abmahnung und Kündigungserklärung – wie hier – nicht mehr gearbeitet hat. Es ist insbesondere in einem solchen Fall Sache des Arbeitgebers, im Einzelnen darzulegen, dass neue oder später bekannt gewordene Gründe hinzugetreten sind und erst sie seinen Kündigungsentschluss bestimmt haben.
[18] 3. Danach durfte das Landesarbeitsgericht den weiteren Vortrag der Beklagten zu Äußerungen des Klägers gegenüber den drei im November 2005 neu eingestellten Mitarbeitern und zu Verfehlungen beim Alkoholausschank an Beschäftigte nicht schon mit der Begründung unbeachtet lassen, der Kläger habe einen Tag vor der Kündigung eine Abmahnung erhalten und weitere Pflichtverletzungen seien nicht erkennbar. Die Beklagte konnte diese Verhaltensweisen, wenn sie ihr tatsächlich erst nach Ausspruch der Abmahnungen bekannt geworden sind, zur Begründung ihrer Kündigung heranziehen.
[19] II. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen war der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
[20] 1. Ob die von der Beklagten erhobenen Vorwürfe hinsichtlich der Äußerungen des Klägers gegenüber Mitarbeitern und des unberechtigten Ausschanks von alkoholischen Getränken tatsächlich berechtigt sind, steht nicht fest. Das Landesarbeitsgericht wird dies aufklären und dabei feststellen müssen, wann die Beklagte von den behaupteten Pflichtverletzungen des Klägers erfahren hat. Hierzu wird es vorweg eines substantiierten Vortrags von deren Seite bedürfen. Ob das Verhalten des Klägers ggf. eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt, wird das Landesarbeitsgericht sodann im Einzelnen würdigen müssen. Dabei kann es gehalten sein zu prüfen, ob die behaupteten Äußerungen des Klägers gegenüber den neuen Mitarbeitern im Rahmen eines Kollegengesprächs gefallen und vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) gedeckt sind.
[21] 2. Gegebenenfalls wird das Landesarbeitsgericht weitergehend aufklären müssen, ob die von der Beklagten behaupteten geschäftsschädigenden Äußerungen des Klägers gegenüber zwei Gästen gefallen sind. Es hat dies aufgrund der bisher durchgeführten Beweisaufnahme zwar verneint. Die Revision hat aber zu Recht gerügt, dass es insoweit nicht alle Beweismittel ausgeschöpft hat. Die Beklagte hatte sich nicht nur auf die vernommenen, sondern auch auf weitere Zeugen, insbesondere den Zeugen M, berufen, die bisher nicht vernommen wurden.