Bundesgerichtshof
BGB §§ 765, 138 Abs. 1
Zur Sittenwidrigkeit einer aus emotionaler Verbundenheit erteilten Bürgschaft bei hintereinander geschalteten Bürgschaftsverträgen.

BGH, Beschluss vom 1. 4. 2014 – XI ZR 276/13; OLG Stuttgart (lexetius.com/2014,1298)

Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Wiechers, die Richter Dr. Joeres, Dr. Ellenberger und Dr. Matthias sowie die Richterin Dr. Menges am 1. April 2014 beschlossen:
Der Beklagten wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. April 2013 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird der vorbezeichnete Beschluss aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens einschließlich der Wiedereinsetzung, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 40.000 €.
[1] Gründe: I. Die Klägerin nimmt die Beklagte aus Bürgschaft in Anspruch.
[2] Die Beklagte unterzeichnete unter dem 5. Januar 2002, 29. Juli 2002 und 16. September 2003 Erklärungen über eine "[b] etragsmäßig beschränkte Bürgschaft", in denen sie sich zunächst in Höhe von 41.000 € und sodann in Höhe von 45.000 € für Forderungen der Klägerin gegen den Lebensgefährten der Beklagten (künftig auch: Hauptschuldner) verbürgte.
[3] Am 17. November 2005 unterschrieb sie ein auf den 15. November 2005 datiertes Formular über eine "[b] etragsmäßig beschränkte Bürgschaft", das einen Höchstbetrag von 40.000 € auswies und sich auf eine Forderung der Klägerin gegen den Lebensgefährten aus einem näher bezeichneten "Kontokorrentkredit" bis 70.000 € und aus einem bestimmt bezeichneten Darlehen über gut 5.000 € bezog. Dieser Erklärung der Beklagten lag eine Selbstauskunft vom 6. Oktober 2005 zugrunde, in der sie unter anderem ihr monatliches Nettoarbeitseinkommen mit 322 €, monatliche Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mit knapp 945 €, den Wert eines (tatsächlich in ihrem Alleineigentum stehenden) Wohngrundstücks mit "Vermögen gemeinsam Haus H. ca. 225.000 €" und die Summe ihrer Verbindlichkeiten gegenüber einer anderen Bank mit etwas über 171.000 € angegeben hatte.
[4] Im Februar 2007, unter dem 27. April 2009 und unter dem 1. April 2011 auf einem Formular vom 24. März 2011 erklärte die Beklagte erneut eine "[b] etragsmäßig beschränkte Bürgschaft" jeweils über 40.000 €, wobei als Hauptschuld (nur noch) eine Forderung der Klägerin aus einem konkret bezeichneten "Kontokorrentkredit" mit wechselndem Kreditrahmen – Februar 2007: bis 80.000 €, April 2009: bis 110.000 €, April 2011: bis 120.000 € – bezeichnet war.
[5] Im Januar 2012 kündigte die Klägerin die "Geschäftsverbindung" zum (inzwischen insolventen) Hauptschuldner. Anschließend nahm sie die Beklagte als Bürgin in Anspruch.
[6] Ihrer auf Zahlung von 40.000 € nebst Zinsen gerichteten Klage hat das Landgericht stattgegeben, wobei es die Verpflichtung der Beklagten aus dem Bürgschaftsvertrag von November 2005 hergeleitet hat.
[7] Auf die dagegen gerichtete Berufung hat das Berufungsgericht den Hinweis erteilt, es beabsichtige, das Rechtsmittel durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen. Der Klägerin stehe gegen die Beklagte ein Anspruch aus der Bürgschaft von November 2005 zu. Der im November 2005 zwischen den Parteien geschlossene Bürgschaftsvertrag habe eine selbständige Verpflichtung der Beklagten begründet und nicht nur die in den Jahren 2002 und 2003 übernommene Verpflichtung bestätigt. Der Bürgschaftsvertrag sei auch nicht wegen einer krassen finanziellen Überforderung der Beklagten sittenwidrig und nichtig.
[8] Dabei könne der tatsächliche Wert des Wohngrundstücks der Beklagten dahinstehen. Denn die Beklagte habe in ihrer Selbstauskunft vom 6. Oktober 2005 angegeben, über Grundeigentum im Wert von "ca. 225.000 €" zu verfügen. Abzüglich "der noch valutierenden Darlehen von ca. 171.350 €" habe sie nach eigenen Angaben noch "über freies Vermögen von über 50.000 €" verfügt, das sie zur vollständigen Tilgung der Bürgschaftsverbindlichkeit habe nutzen können. Damit sei "die Vermutung für eine subjektiv anstößige Ausnutzung" der emotionalen Verbundenheit der Beklagten bei Begründung einer übermäßig finanziell belastenden Personalsicherheit durch die Klägerin widerlegt, weil sie von einer krassen finanziellen Überforderung der Beklagten keine Kenntnis gehabt habe. Dass die Beklagte ihre Angabe zum Wert des Wohngrundstücks mit dem Zusatz "ca." versehen habe, sei unschädlich, weil sie damit lediglich ihr Unvermögen zum Ausdruck gebracht habe, "eine – betragsmäßig – genaue Angabe" zu machen. Die zum Erwerb und zur Sanierung des Wohngrundstücks ursprünglich aufgenommenen Darlehen legten die Richtigkeit der Schätzung der Beklagten nahe. Wertabschläge für einen (nicht absehbaren) "Notverkauf" des Wohngrundstücks oder eine (ebenfalls nicht abschätzbare) Vorfälligkeitsentschädigung im Verhältnis zum dritten Darlehensgeber auf den Wert der Immobilie habe die Klägerin nicht machen müssen.
[9] Nach Stellungnahme der Beklagten zu diesen Hinweisen hat das Berufungsgericht wie angekündigt entschieden. Ergänzend hat es ausgeführt: An der Wirksamkeit der Bürgschaftsverpflichtung ändere es nichts, wenn die Bürgschaft von November 2005 durch spätere Bürgschaften in den Jahren 2007, 2009 und 2011 ersetzt worden sei bzw. sämtliche zwischen den Parteien geschlossenen Bürgschaftsverträge seit November 2005 nicht nur ändernden, sondern schuldneuschaffenden Charakter gehabt hätten. Die Klägerin nehme die Beklagte "nicht aus der Bürgschaft vom 17. […] [November] 2005, sondern allgemein aus der 'Bürgschaft über € 40. 000 […]'" in Anspruch. Bis in das Jahr 2012 hätten sich die Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Beklagten aus Sicht der Klägerin nicht geändert, so dass sämtliche Verträge bis zu dem des Jahres 2011 vor § 138 Abs. 1 BGB Bestand hätten.
[10] Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten.
[11] II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde zu gewähren, weil sie nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch den Senat fristgerecht sowohl die Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt als auch begründet hat (§§ 233, 234 Abs. 1 und 2 ZPO).
[12] 2. Die Revision ist nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, weil der angegriffene Beschluss den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 11. Mai 2004 – XI ZB 39/03, BGHZ 159, 135, 139 f. und vom 9. Februar 2010 – XI ZR 140/09, BKR 2010, 515, 516). Aus demselben Grund ist er gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
[13] a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 60, 247, 249; 65, 293, 295 f.; 70, 288, 293; 83, 24, 35). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, zumal es nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG setzt eine gewisse Evidenz der Gehörsverletzung voraus. Im Einzelfall müssen besondere Umstände vorliegen, die deutlich ergeben, dass das Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfGE 22, 267, 274; 54, 86, 91 f.; 79, 51, 61; 86, 133, 146; 96, 205, 216 f.).
[14] b) Nach diesen Maßgaben ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
[15] Das Berufungsgericht hat erstmals in seinem die Berufung zurückweisenden Beschluss nicht mehr – wie zuvor noch in seinem Hinweisbeschluss im Anschluss an die Entscheidung des Landgerichts – einen Anspruch der Klägerin (nur) aus dem Bürgschaftsvertrag von November 2005, sondern "allgemein aus der 'Bürgschaft über € 40. 000 […]'" abgeleitet. Dabei hat es sämtliche Rechtsgeschäfte bis April 2011 als "neue Verträge" qualifiziert bzw. unterstellt, dass der Bürgschaftsvertrag von November 2005 "durch die späteren Bürgschaften" von Februar 2007, April 2009 und April 2011 "ersetzt worden" sei. Damit ist in dritter Instanz zugunsten der Beklagten davon auszugehen, dass das Berufungsgericht die Vereinbarung von April 2011 als maßgeblich für die Herleitung ihrer Verpflichtung angesehen hat. Zugleich hat das Berufungsgericht angenommen, die Klägerin habe "die Vermutung für eine subjektiv anstößige Ausnutzung durch Nachweis der fehlenden Kenntnis" von einem "möglichen krassen Missverhältnis widerlegt", weil sie sich auf die Angaben der Beklagten in ihrer Selbstauskunft vom 6. Oktober 2005 habe verlassen dürfen. "[B] is zur erst später erteilten – neuen Selbstauskunft vom 30. […] [Juni] 2012" hätten "sich die Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Beklagten aus Sicht der Klägerin nicht geändert".
[16] Dabei hat das Berufungsgericht, für das die eigene Einschätzung der Beklagten in Bezug auf ihre Vermögenslage von zentraler Bedeutung für seine Argumentation zu § 138 Abs. 1 BGB war, übersehen, dass die Beklagte bereits in erster Instanz in dem ihr nachgelassenen Schriftsatz vom 6. Dezember 2012 und erneut in ihrer Stellungnahme zu den Hinweisen des Berufungsgerichts mit Schriftsatz vom 25. März 2013 auf ihre Selbstauskunft vom 4. November 2010 – also vor April 2011 – hingewiesen hatte, in der die "Summe der Verkehrswerte" von Immobilien mit "ca. 125. 000" € beziffert war und diesem Wert Verbindlichkeiten von über 143.000 € gegenübergestellt waren. Diese Selbstauskunft hat sie zwar entgegen der Bezugnahme im Schriftsatz vom 6. Dezember 2012 nicht als dessen Anlage 11b, wohl aber bereits mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2012 ohne Benennung im Anschluss an die dortige Anlage B 11 vorgelegt. Das Berufungsgericht hat diesen aus seiner Warte in einem zentralen Punkt entscheidungserheblichen Vortrag ebenso außer Acht gelassen wie das in der Berufungsbegründung unter Beweis gestellte Vorbringen der Beklagten, die Klägerin selbst habe aufgrund einer Besichtigung im Jahr 2008 den Wert des Grundstücks auf 125.000 € taxiert.
[17] c) Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens anders entschieden hätte (BVerfGE 7, 95, 99; 60, 247, 250; 62, 392, 396; 89, 381, 392 f.). Das ist der Fall, weil das Berufungsgericht maßgeblich darauf abgestellt hat, die Klägerin habe bis Ende Juni 2012 keinen Anlass gehabt, die Leistungsfähigkeit der Beklagten neu und anders zu beurteilen.
[18] d) Die Zurückweisung der Berufung kann mit keiner anderen Begründung Bestand haben (BGH, Urteil vom 18. Juli 2003 – V ZR 187/02, WM 2004, 46, 47 f.; Musielak/Ball, ZPO, 10. Aufl., § 543 Rn. 9k). Insbesondere lässt sie sich nicht mit dem Argument halten, bei unterstellter Sittenwidrigkeit und Nichtigkeit der Schuldum- oder -neuschaffungen im April 2011 und April 2009 stehe der Klägerin (wenigstens) ein Anspruch aus dem Bürgschaftsvertrag von Februar 2007 zu, so dass es auf Erkenntnisse der Klägerin aufgrund einer Selbstauskunft der Beklagten vom 4. Oktober 2010 bzw. aufgrund einer im Jahr 2008 erstellten eigenen Bewertung nicht ankomme. Denn bei einer Verpflichtung aus Bürgschaftsvertrag von Februar 2007, der überdies möglicherweise durch einen Folgevertrag aufgehoben wurde, handelte es sich um einen anderen Streitgegenstand (vgl. MünchKommZPO/Gottwald, 4. Aufl., § 322 Rn. 144). Zudem fehlen tragfähige Feststellungen zu den subjektiven Voraussetzungen des § 138 Abs. 1 BGB, weil die Klägerin sich – unbeschadet der Frage, welche Wirkungen der Erklärung für einen Vertragsschluss Ende 2005 zukam – mehr als ein Jahr später nicht auf die Richtigkeit der am 6. Oktober 2005 gemachten Angaben verlassen durfte.
[19] 3. Das Berufungsgericht wird in der wiedereröffneten Berufungsverhandlung das Rangverhältnis der Klagegründe, auf die die Klägerin ihr Begehren stützt, zu klären haben (Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids: "Bürgschaft gem. Vertrag vom 06. 06. 00"; Anspruchsbegründungsschrift: 2007, 2009 und 2011 "bestätigt [e]" Bürgschaft vom "17. 11. 2005"; Schriftsatz vom 28. November 2012: "Bürgschaftsverpflichtung vom 17. 11. 2005"). Weil es sich bei der Herleitung eines Zahlungsanspruchs aus mehreren selbständigen Bürgschaftsverträgen um mehrere Streitgegenstände handelt, kann wegen § 253 Abs. 2 Nr. 2, § 308 Abs. 1 und § 322 Abs. 1 ZPO (vgl. BGH, Urteil vom 18. November 1993 – IX ZR 244/92, BGHZ 124, 164, 166) nicht offen bleiben, auf welcher vertraglichen Vereinbarung zwischen Gläubiger und Bürge und auf welcher Hauptschuld (vgl. Senatsurteil vom 29. Januar 2008 – XI ZR 160/07, BGHZ 175, 161 Rn. 30; BGH, Urteil vom 18. November 1993 – IX ZR 244/92, BGHZ 124, 164, 167) die Verurteilung beruht. Eine alternative Klagenhäufung, die es dem Berufungsgericht überlässt, aus der Kette der Bürgschaftsverträge den herauszusuchen, den es als Verpflichtungsgrund gelten lassen will, ist unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 24. März 2011 – I ZR 108/09, BGHZ 189, 56 Rn. 6 ff.; Urteil vom 13. September 2012 – I ZR 230/11, BGHZ 194, 314 Rn. 18; Urteil vom 25. April 2013 – IX ZR 62/12, WM 2013, 1040 Rn. 12).
[20] Das Berufungsgericht wird gegebenenfalls weiter Anlass haben zu prüfen, ob den Vereinbarungen von 2007, 2009 und 2011 tatsächlich – wie in dritter Instanz zugunsten der Beklagten zu unterstellen – schuldum- oder -neuschaffende Wirkung zukommt. Es wird dabei die von der Beklagten als Anlagen BK 8 bis 11 vorgelegten Schreiben der Klägerin zu bewerten haben, in denen es unter Bezugnahme auf "gegenüber uns neu übernommene […] Bürgschaften" heißt, jeweils vorangehend erteilte Bürgschaften seien "entwertet zu unseren Akten genommen" worden. Ob die Parteien einen Änderungsvertrag, eine Schuldum- oder eine Schuldneuschaffung gewollt haben (dazu BGH, Urteil vom 8. März 2012 – IX ZR 51/11, WM 2012, 857 Rn. 22; MünchKommBGB/Emmerich, 6. Aufl., § 311 Rn. 15; Palandt/Grüneberg, BGB, 73. Aufl., § 311 Rn. 8 ff.), ist durch Auslegung zu ermitteln. Wegen der weitreichenden Folgen einer Schuldum- oder -neuschaffung muss ein dahingehender Vertragswille deutlich erkennbar zum Ausdruck kommen. Wenn Zweifel verbleiben, ist regelmäßig nur von einem Änderungsvertrag auszugehen (BGH, Urteil vom 14. November 1985 – III ZR 80/84, WM 1986, 135, 136; Urteil vom 8. März 2012 aaO Rn. 23; Palandt/Grüneberg aaO Rn. 8 mwN). Der Umstand, dass eine Erweiterung des Kreditlimits des Hauptschuldners wegen § 767 Abs. 1 Satz 3 BGB nicht ohne weiteres zulasten des Bürgen wirkt (vgl. BGH, Urteil vom 18. Mai 1995 – IX ZR 108/94, BGHZ 130, 19, 34; Urteil vom 13. November 1997 – IX ZR 289/96, BGHZ 137, 153, 155 f.; Urteil vom 3. November 2005 – IX ZR 181/04, BGHZ 165, 28, 34), zwingt nicht zu der Annahme, die Parteien hätten bei jeder Erweiterung der Kreditlinie eine Schuldum- oder -neuschaffung vorgenommen. Eine Haftungserweiterung kann auch Gegenstand einer (bloßen) Abänderung des Bürgschaftsvertrages in der Form des § 766 BGB sein (vgl. MünchKommBGB/Habersack, 6. Aufl., § 767 Rn. 10), sofern die Identität der Hauptschuld gewahrt bleibt (vgl. MünchKommBGB/Habersack, aaO Rn. 3).
[21] Sollte das Berufungsgericht feststellen, dass einzelne der zwischen den Parteien geschlossenen Vereinbarungen (lediglich) Änderungsverträge zum Gegenstand hatten, wird es die Untersuchung der Frage, ob der Bürgschaftsvertrag wegen krasser finanzieller Überforderung der Beklagten sittenwidrig und damit nichtig ist, auf den Ausgangsvertrag bezogen zu beantworten haben, sofern die Änderungsverträge lediglich eine Anpassung der Bürgschaft an den Umfang der Hauptschuld und nicht den Umfang der Bürgschaft selbst zum Gegenstand hatten (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 1977 – VII ZR 339/74, WM 1977, 399, 400; RGZ 86, 296, 298 f.).
[22] Bei der Prüfung des § 138 Abs. 1 BGB wird zu bedenken sein, dass eine krasse finanzielle Überforderung ausscheidet, wenn die Bürgenschuld durch den Wert eines dem Bürgen gehörenden Grundstücks abgedeckt ist (BGH, Urteil vom 26. April 2001 – IX ZR 337/98, WM 2001, 1330, 1331 f.). Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist nur der im Einzelfall effektiv verfügbare Sicherungswert des Grundeigentums in Ansatz zu bringen. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses auf dem Grundeigentum ruhende dingliche Belastungen sind wertmindernd zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 14. Mai 2002 – XI ZR 50/01, BGHZ 151, 34, 38 f.; vom 28. Mai 2002 – XI ZR 199/01, WM 2002, 1647, 1648 und vom 24. November 2009 – XI ZR 332/08, WM 2010, 32 Rn. 15; Nobbe in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl., § 91 Rn. 98), wobei ausgehend von diesem Zeitpunkt der Umfang der dinglichen Belastung bei Eintritt des Sicherungsfalls zu prognostizieren ist (Nobbe, Kommentar zum Kreditrecht, 2. Aufl., § 765 BGB Rn. 93). Darlegungs- und beweispflichtig dafür, die von ihr übernommene Bürgschaft habe bei Stellung der Personalsicherheit ihre Leistungsfähigkeit bei weitem überschritten, ist die Beklagte (vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 1994 – IX ZR 93/93, BGHZ 125, 206, 217; Federlin in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl., Rn. 12. 261; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast – BGB Schuldrecht BT II, 3. Aufl., § 765 Rn. 4; Senatsurteil vom 24. November 2009 – XI ZR 332/08, WM 2010, 32 Rn. 16 betrifft die Darlegungslast für eine voraussehbare nachträgliche Wertsteigerung). Wertangaben des Bürgen in einer in zeitlichem Zusammenhang mit dem Abschluss des Bürgschaftsvertrages erteilten Selbstauskunft, die seine objektiv krasse finanzielle Überforderung nicht erkennen lassen, widerlegen die tatsächliche Vermutung einer verwerflichen Gesinnung des Gläubigers nicht ohne weiteres (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1988 – III ZR 30/87, BGHZ 104, 102, 108; Urteil vom 24. Februar 1994 – IX ZR 93/93, BGHZ 125, 207, 212 f., 217; Urteil vom 18. September 2001 – IX ZR 183/00, WM 2001, 2156, 2158; Sack/Fischinger in Staudinger, BGB, Neubearb. 2011, § 138 Rn. 387; großzügiger Münch- KommBGB/Habersack, 6. Aufl., § 765 Rn. 25 a. E.; Nobbe, Kommentar zum Kreditrecht, 2. Aufl., § 765 BGB Rn. 98 mwN zur obergerichtlichen Rechtsprechung; zur wahrheitswidrigen Selbstauskunft Hoffmann in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2013, Kap. 29 Rn. 28 a. E.). Den (subjektiven) Vorwurf der Sittenwidrigkeit räumen sie nur aus, wenn sie einer sorgfältigen Überprüfung des Gläubigers standhalten (BGH, Urteil vom 24. Februar 1994 aaO S. 217). Das bedarf für die Selbstauskunft vom 6. Oktober 2005 näherer Überprüfung, da sie mittels der Wendungen "gemeinsam" und "ca." auf exakte Angaben verzichtete und damit schon aus sich heraus zu Zweifeln an ihrer Verlässlichkeit Anlass gab.
[23] Sofern das Berufungsgericht dahin gelangen sollte, die Bürgenschuld sei durch den Wert des der Beklagten gehörenden Grundstücks nicht abgedeckt, wird es sich mit der Frage zu befassen haben, ob die Beklagte bei Abschluss des vom Berufungsgericht als maßgeblich ermittelten Bürgschaftsvertrages (wenigstens) in der Lage war, die Zinslast aus dem pfändbaren Teil ihres Einkommens, bei dessen Ermittlung Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mit zu berücksichtigen sind, bei Eintritt des Sicherungsfalles dauerhaft zu tragen (vgl. Senatsurteil vom 19. Februar 2013 – XI ZR 82/11, WM 2013, 608 Rn. 9 ff. mwN).