Bundesgerichtshof

BGH, Urteil vom 26. 9. 2017 – XI ZR 545/15; OLG Frankfurt a. M. (lexetius.com/2017,2922)

Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat gemäß § 128 Abs. 2 ZPO im schriftlichen Verfahren, in dem Schriftsätze bis zum 31. August 2017 eingereicht werden konnten, durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Ellenberger, den Richter Dr. Matthias sowie die Richterinnen Dr. Menges, Dr. Derstadt und Dr. Dauber für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. November 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
[1] Tatbestand: Der Kläger nimmt die Beklagte nach Widerruf auf Rückabwicklung eines Darlehensvertrags in Anspruch.
[2] Mit "Beitrittsvereinbarung/Darlehensvertrag" vom 5. Dezember 2004 beteiligte sich der Kläger in Höhe von 60.000 € an der M. GmbH & Co. Verwaltungs KG, H. Fonds Nr. 158, einem Filmfonds. Die Einlage erbrachte er in Höhe von 31.920 € aus eigenen Mitteln. Die Finanzierung der übrigen Einlage in Höhe von 28.080 € erfolgte obligatorisch durch ein von der Beklagten gewährtes Darlehen mit einer Laufzeit von 8 Jahren. Das Formular "Beitrittsvereinbarung/Darlehensvertrag" enthielt auf Seite 3 die von dem Kläger ebenfalls am 5. Dezember 2004 unterzeichnete Bestätigung, "die Vertragsunterlagen inkl. Beteiligungsprospekt sowie die beiden Widerrufsbelehrungen erhalten und zur Kenntnis genommen zu haben". Die Widerrufsbelehrungen lauteten wie folgt:
[3] Seit Dezember 2012 ist das Darlehen vollständig zurückgeführt.
[4] Mit Schreiben vom 15. Januar 2014 widerrief der Kläger seine auf den Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung.
[5] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Erstattung des von ihm zur Finanzierung der Beteiligung aufgebrachten Eigenkapitals abzüglich der an ihn ausbezahlten Barausschüttungen, Zug um Zug gegen Übertragung sämtlicher Rechte aus der Fondsbeteiligung, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten hinsichtlich dieser Übertragung, Nutzungsersatz in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz bezogen auf die an die Beklagte erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen sowie Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
[6] Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Widerrufsbelehrung dem Muster der Anlage 2 zur BGB-InfoV in der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gültigen Fassung entspreche und ein Widerruf zudem als verwirkt anzusehen wäre. Die dagegen gerichtete Berufung hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter.
[7] Entscheidungsgründe: Die Revision des Klägers hat Erfolg.
[8] I. Das Berufungsgericht (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 11. November 2015 – 19 U 40/15, juris) hat zur Begründung seiner Entscheidung – soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung – im Wesentlichen ausgeführt:
[9] Der Kläger könne sich nicht auf ein Widerrufsrecht nach § 495 Abs. 1, § 355 BGB aF berufen. Zwar sei der Widerruf nicht verfristet gewesen, da mangels ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung der Lauf der Widerrufsfrist nicht in Gang gesetzt worden sei. Die Widerrufsbelehrung sei zu beanstanden, da sie angesichts der Formulierung "die Frist beginnt frühestens mit Erhalt dieser Belehrung" nicht ordnungsgemäß über den Beginn der Widerrufsfrist belehre. Die Beklagte könne sich auch nicht auf § 14 Abs. 1 BGB-InfoV berufen, da die Widerrufsbelehrung nicht der Musterbelehrung nach Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 BGB-InfoV in der maßgeblichen Fassung entsprochen habe. Sowohl die Überschrift als auch die Angaben zum Widerrufsadressaten wichen von dem Muster ab.
[10] Der Wirksamkeit des Widerrufs stehe jedoch der Einwand des Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB entgegen. Der Widerruf werde aus Gründen ausgeübt, die von dem Schutzzweck des Widerrufsrechts nicht gedeckt seien.
[11] Denn der von dem Kläger am 15. Januar 2014 erklärte Widerruf sei nicht mehr zum Schutz vor Übereilung erfolgt, wie schon der zeitliche Abstand von neun Jahren zum Abschluss des Darlehensvertrags und von über einem Jahr zur vollständigen Rückführung des Darlehens zeige. Schutz vor Vertragsreue sei jedoch gerade nicht der Schutzzweck des Widerrufsrechts. Dem Rechtsmissbrauchseinwand stehe auch nicht entgegen, dass die Ausübung des Widerrufsrechts keiner Begründung bedürfe. Die Möglichkeit der Beklagten, eine Nachbelehrung zu erteilen, könne bei der Frage der Verwirkung eine Rolle spielen, nicht aber bei der Frage, ob ein Rechtsmissbrauch gegeben sei.
[12] II. Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht in allen Punkten stand.
[13] 1. Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dem Kläger habe ursprünglich ein Recht zum Widerruf seiner auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichteten Willenserklärung nach § 495 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 355 Abs. 1 und 2 BGB in der vom 1. August 2002 bis zum 10. Juni 2010 geltenden Fassung (nachfolgend: aF) zugestanden. Dass das Widerrufsrecht des Klägers nach § 358 Abs. 2 Satz 2 BGB in der vom 1. August 2002 bis zum 29. Juli 2010 geltenden Fassung ausgeschlossen gewesen sei, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt und wird von den Parteien auch nicht geltend gemacht.
[14] 2. Ebenfalls zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, die Widerrufsfrist sei bei Erklärung des Widerrufs im Januar 2015 nicht abgelaufen gewesen.
[15] a) Die dem Kläger erteilte Widerrufsbelehrung unterrichtete diesen mittels des Einschubs "frühestens" unzureichend deutlich über den Beginn der Widerrufsfrist (Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 18 und vom 25. April 2017 – XI ZR 108/16, WM 2017, 1008 Rn. 11).
[16] b) Überdies kann sich die Beklagte – wie das Berufungsgericht jedenfalls im Ergebnis richtig erkannt hat – nicht auf die Gesetzlichkeitsfiktion des Musters für die Widerrufsbelehrung aus Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 und 3 BGB-InfoV in der vom 1. September 2002 bis zum 7. Dezember 2004 geltenden Fassung (nachfolgend: aF) berufen.
[17] aa) Rechtsfehlerhaft ist zwar die Annahme des Berufungsgerichts, die Ergänzung der Überschrift "Widerrufsbelehrung" durch den Zusatz "Nr. 2 zum Darlehensvertrag mit der He. (Abschnitte B. und D. des Zeichnungsscheins)" stehe der Berufung auf die Gesetzlichkeitsfiktion entgegen. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, entsprach eine solche Ergänzung der Überschrift ihrer Qualität nach den vom Gesetzgeber selbst nach Art. 245 EGBGB in der vom 1. August 2002 und bis zum 10. Juni 2010 geltenden Fassung, § 14 Abs. 1 und 3 BGB-InfoV in der vom 1. September 2002 bis zum 10. Juni 2010 geltenden Fassung (nachfolgend: aF) als zuträglich anerkannten Abweichungen, ohne die Deutlichkeit der Belehrung zu schmälern, und ließ damit die Gesetzlichkeitsfiktion unberührt (Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 23 und vom 20. Juni 2017 – XI ZR 72/16, WM 2017, 1599 Rn. 25).
[18] Dies gilt ebenfalls für die im ersten Satz des Abschnitts "Widerrufsrecht" eingefügte Formulierung "im Zeichnungsschein enthaltene, auf die Aufnahme der Fremdfinanzierung (Darlehensvertrag) gerichtete", mit der die Widerrufsbelehrung ebenfalls nur einem konkreten Verbrauchervertrag zugeordnet worden ist, sowie für die im ersten Halbsatz des Abschnitts "Finanzierte Geschäfte" vorgenommene Umstellung ("Falls Sie diesen Darlehensvertrag widerrufen" statt "Widerrufen Sie diesen Darlehensvertrag"), die ohne Abstriche bei der Verständlichkeit des Textes die Formulierung des Musters durch ein Synonym ersetzt.
[19] Schließlich steht der Berufung auf die Gesetzlichkeitsfiktion auch nicht entgegen, dass als Adressat der Widerrufserklärung nicht die Beklagte selbst angegeben ist. Die Bezeichnung eines Empfangsvertreters ist an sich zulässig und nach § 14 Abs. 1 und 3 BGB-InfoV aF für sich unschädlich (Senatsurteil vom 20. Juni 2017 – XI ZR 72/16, WM 2017, 1599 Rn. 26). Zudem ist in der Widerrufsbelehrung entsprechend Gestaltungshinweis (3) der Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 und 3 BGB-InfoV aF die ladungsfähige Anschrift der Empfangsbevollmächtigten angegeben (zu diesem Erfordernis Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 24 und vom 20. Juni 2017, aaO).
[20] bb) Allerdings hat die Beklagte das Muster für die Widerrufsbelehrung, was der Senat durch einen Vergleich selbst feststellen kann (Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 25 und vom 20. Juni 2017 – XI ZR 72/16, WM 2017, 1599 Rn. 27 ff., jeweils mwN), in anderer Weise einer inhaltlichen Bearbeitung unterzogen, die über das nach § 14 Abs. 3 BGB-InfoV aF für den Erhalt der Gesetzlichkeitsfiktion Unschädliche hinausgeht. Unter der Überschrift "Finanzierte Geschäfte" hat sie den Gestaltungshinweis (8) nicht vollständig umgesetzt, indem sie von dem Hinweis für die Belehrung für den Darlehensvertrag nur den ersten Absatz übernommen hat. Da der zweite Absatz – anders als z. B. der Gestaltungshinweis (2) – nicht optional gestaltet war, hat seine Nichtübernahme zur Folge, dass die Beklagte sich nicht auf die Gesetzlichkeitsfiktion des Musters berufen kann, auch wenn das Darlehen hier nicht der Finanzierung der Überlassung einer Sache diente.
[21] 3. Das Berufungsgericht hat jedoch die Voraussetzungen verkannt, unter denen die Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher als unzulässige Rechtsausübung qualifiziert werden kann (vgl. dazu Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 501/15, BGHZ 211, 105 Rn. 17 ff. und XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 43 ff.). Eine solche Qualifizierung kommt nicht allein deshalb in Betracht, weil die Erklärung des Widerrufs nicht durch den Schutzzweck des Verbraucherwiderrufsrechts motiviert ist (Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 501/15, aaO Rn. 20 ff. und XI ZR 564/15, aaO Rn. 45 ff.).
[22] III. Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).
[23] Insbesondere steht nicht abschließend fest, dass es dem Kläger nach § 242 BGB verwehrt ist, sich auf die Rechtsfolgen des Widerrufs zu berufen.
[24] Gerade bei – wie hier – beendeten Verbraucherdarlehensverträgen kann das Vertrauen des Unternehmers auf ein Unterbleiben des Widerrufs nach den für die Verwirkung allgemein geltenden Maßgaben schutzwürdig sein, auch wenn die von ihm erteilte Widerrufsbelehrung ursprünglich den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprach und er es in der Folgezeit versäumt hat, den Verbraucher gemäß § 355 Abs. 2 Satz 2 BGB aF nachzubelehren (vgl. Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 501/15, BGHZ 211, 105 Rn. 39 ff. sowie XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 34 ff., vom 11. Oktober 2016 – XI ZR 482/15, WM 2016, 2295 Rn. 30 f., zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen, und vom 21. Februar 2017 – XI ZR 381/16, WM 2017, 806 Rn. 22). Ob eine Verwirkung vorliegt, richtet sich nach den vom Tatrichter festzustellenden und zu würdigenden Umständen des Einzelfalles (Senatsurteile vom 12. Juli 2016 – XI ZR 501/15, aaO Rn. 40 und XI ZR 564/15, aaO Rn. 37 sowie vom 21. Februar 2017, aaO). Dieser Würdigung kann der Senat, da sich das Berufungsgericht bisher nicht mit der Frage der Verwirkung auseinandergesetzt hat, nicht vorgreifen.
[25] IV. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist, ist sie zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).