Bundesgerichtshof

BGH, Urteil vom 15. 9. 1995 – 5 StR 642/94; LG Berlin (lexetius.com/1995,461)

[1] 1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. April 1994 in den Fällen II 1, 2, 6, 7 und 8 des Urteils aufgehoben. In diesen Fällen wird die Angeklagte freigesprochen. Insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die der Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last.
[2] 2. Auf die Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das genannte Urteil im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
[3] 3. Die weitergehende Revision der Angeklagten wird verworfen. Danach ist die Angeklagte der Rechtsbeugung in drei Fällen schuldig.
[4] 4. Zur Straffestsetzung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten der Revisionen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
[5] Gründe: Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Rechtsbeugung in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren – als Hauptstrafe (§ 64 Abs. 1 StGB-DDR) – unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
[6] A. Die 1926 geborene Angeklagte studierte bis 1958 in Berlin (Ost) Rechtswissenschaft. 1959 wurde sie Richterin. Seit 1966 war sie Oberrichterin am Stadtgericht Berlin; sie erhielt den Vorsitz des für politische Strafsachen erstinstanzlich zuständigen I a – Strafsenats. Seit 1986 ist sie Rentnerin.
[7] I. Gegenstand des Verfahrens ist die Tätigkeit der Angeklagten in acht Strafverfahren in den Jahren 1978 bis 1986. In diesen Verfahren wirkte die Angeklagte als Vorsitzende und einzige Berufsrichterin an Verurteilungen zu Freiheitsstrafen mit. Das Landgericht hat ihr Vorgehen jeweils als Rechtsbeugung gewertet. Der Vorwurf tateinheitlicher Freiheitsberaubung wurde in der Hauptverhandlung nach § 154a StPO ausgeschieden.
[8] In zwei Fällen hingen die Verurteilungen mit dem Vorwurf "ungesetzlichen Grenzübertritts" zusammen, in drei Fällen betrafen sie den Vorwurf "staatsfeindlicher Hetze", in drei Fällen wurden den Betroffenen insbesondere "ungesetzliche Verbindungsaufnahme" bzw. schwerere Delikte gleicher Stoßrichtung vorgeworfen. Insgesamt wurden zwölf Betroffene zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr und zehn Monaten, höchstens neun Jahren verurteilt.
[9] II. Gegen das Urteil des Landgerichts richtet sich die zuungunsten der Angeklagten eingelegte, auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird. Die Staatsanwaltschaft rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Die Angeklagte rügt mit ihrer unbeschränkten Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
[10] B. Die von der Revision der Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.
[11] I. Die Besetzungsrüge versagt. Eine Ergänzung der Vorschlagsliste gemäß § 36 GVG nach "individueller Vorauswahl" (BGHSt 38, 47) durch eine nach dem Zufallsprinzip erstellte Liste ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (Senatsbeschluß vom 4. Mai 1995 – 5 StR 178/95 -).
[12] II. Die gegen die Mitwirkung der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft gerichteten Verfahrensrügen sind unbegründet. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung, ob, gegebenenfalls inwieweit und unter welchen Voraussetzungen die Mitwirkung eines "befangenen" Staatsanwalts revisibel ist (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 42. Aufl. vor § 22 Rdn. 3 ff. mwN). Denn es ist, zumal angesichts weniger strenger Maßstäbe im Vergleich zur Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit eines Richters (vgl. BVerfG JR 1979, 28), nicht ersichtlich, daß sich aus dem beanstandeten Prozeßverhalten des Staatsanwalts T. oder aus den persönlichen leidvollen Erfahrungen des Staatsanwalts Dr. B mit der DDR-Strafjustiz (vgl. dazu BGHSt 39, 168, 177) Umstände herleiten ließen, die das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren bei Mitwirkung jener Staatsanwälte als Sitzungsvertreter beeinträchtigten. Daß nach der Zeugenvernehmung des Staatsanwalts T. die vom Bundesgerichtshof geforderten Einschränkungen (vgl. BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 2 mwN; dazu Häger in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer 1990 S. 171, 179 ff.) nicht eingehalten worden wären, ist nicht ersichtlich.
[13] III. Die auf Verletzung des § 258 StPO gestützte Verfahrensrüge hat ebenfalls keinen Erfolg. Die Strafkammer hat die Schlußvorträge und das letzte Wort zu fünfzehn Anklagepunkten entgegengenommen, hingegen nur zu acht Anklagepunkten ein Urteil und anschließend Beschlüsse über die vorläufige Einstellung von fünf Anklagepunkten nach § 154 Abs. 2 StPO und über die Abtrennung von zwei weiteren Anklagepunkten verkündet. Dieses Vorgehen berührt die Rechte aus § 258 StPO nicht. Eine hierauf gestützte Formalrüge kann allenfalls Erfolg haben, wenn ein Angeklagter durch die Verfahrensweise unzulässig überrascht worden ist und es sich daher nicht ausschließen läßt, daß ihm effektive Verteidigungsmöglichkeiten entgangen sind. Solches wird regelmäßig eine enge sachliche und argumentative Verflechtung zwischen den abgeurteilten und den abgetrennten Verfahrensteilen erfordern. Das ist hier nicht der Fall.
[14] Die Verfahrensweise nach § 154 Abs. 2 StPO war für die Angeklagte und ihre Verteidiger schon deshalb nicht überraschend, weil von der Staatsanwaltschaft ein entsprechender Antrag gestellt worden war. Das Vorbringen der Revision, bei entsprechender Beschlußfassung vor Urteilsverkündung hätte die Angeklagte die Berufsrichter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, zeigt zudem wegen der offensichtlichen Aussichtslosigkeit eines solchen Gesuchs (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 24 Rdn. 14) keine entgangene effektive Verteidigungsmöglichkeit auf. Zur Abtrennung ist die Angeklagte allerdings ersichtlich nicht gehört worden (§ 33 StPO). Indes hat die Strafkammer im Urteil – abgesehen von einem unerheblichen Punkt, zudem zu einem Fall, in dem die Angeklagte nunmehr freigesprochen wird (UA S. 125) – keinerlei aus den eingestellten oder abgetrennten Verfahrensteilen gewonnene Erkenntnisse zum Nachteil der Angeklagten verwertet. Es ist auch weder dargetan noch sonst ersichtlich, inwieweit die Angeklagte weitere wirksame Argumente zu ihrer Verteidigung aus den nicht mitabgeurteilten Verfahrensteilen unter Berücksichtigung der Teileinstellung oder Abtrennung hätte herleiten sollen (vgl. auch BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 7).
[15] IV. Die auf eine Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO gestützte Rüge, die Strafkammer hätte das Abstimmungsverhalten der Angeklagten weiter aufklären müssen, bleibt – ihre Zulässigkeit und die Erheblichkeit der Frage unterstellt – in der Sache schon deshalb ohne Erfolg, weil sich die Strafkammer aufgrund der von der Angeklagten im Ermittlungsverfahren gemachten Angaben rechtsfehlerfrei und ausreichend davon überzeugt hat, daß die Angeklagte in keinem der hier in Rede stehenden Fälle von Schöffen überstimmt worden ist (UA S. 110—112).
[16] V. Mit der Ablehnung der von der Verteidigung gestellten Anträge auf Einholung von Sachverständigengutachten sowie auf Beiziehung und Verlesung von schriftlichen Unterlagen über das Recht und das Justizsystem der DDR hat das Landgericht nicht gegen Verfahrensrecht verstoßen. Entsprechende Kenntnis von einem deutschsprachigen Rechtssystem mit einer Vielzahl zugänglicher Quellen konnte sich die Strafkammer ohne Anhörung von Sachverständigen im Freibeweisverfahren aufgrund eigener Sachkunde verschaffen. Zur Problematik faktischer Steuerung der Justiz im SED-Staat gilt im Ergebnis nach § 244 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 StPO nichts anderes; hinreichend konkrete Behauptungen für Aufklärungsdefizite, insbesondere im Hinblick auf den Inhalt von Orientierungen, sind zudem insoweit dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen. Soweit Beweiserhebungen über statistische Erkenntnisse zu in der DDR verhängten Strafen vom Landgericht wegen tatsächlicher und rechtlicher Bedeutungslosigkeit abgelehnt worden sind, ist dies nicht zu beanstanden. Auch insoweit fehlt es an näher konkretisiertem Sachvortrag in der Revision. Abgesehen davon ist die Erwägung des Tatrichters tragfähig, daß die der Angeklagten angelasteten Bestrafungen selbst dann als Rechtsbeugung aufzufassen wären, wenn andere Gerichte der DDR ähnlich hohe Strafen verhängt hätten.
[17] VI. Schließlich bleibt die wegen Ablehnung von Anträgen auf Beiziehung und Verlesung von Schriftstücken zum Fall II 2 des Urteils (Bo.) erhobene Rüge erfolglos. Ein Beweisantrag hat nach den Grundsätzen von BGHSt 39, 251 nicht vorgelegen. Entsprechend scheitert eine Aufklärungsrüge am Fehlen einer konkreten Bezeichnung der nicht aufgeklärten Tatsache (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 244 Rdn. 81; Basdorf StV 1995, 310, 316; vgl. zum inhaltlichen Gegenstand der Rüge unten C III 1 b cc).
[18] C. Sachlichrechtlich ist die Revision der Angeklagten zum Schuldspruch unbegründet, soweit sie die Fälle II 3 bis 5 des Urteils betrifft; das Rechtsmittel hat im übrigen mit der Sachrüge Erfolg.
[19] I. Zum Prüfungsmaßstab für die Verfolgung des Justizunrechts in der DDR gilt folgendes:
[20] 1. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken gegen die Verfolgung von Richtern der DDR wegen Rechtsbeugung (§ 336 StGB, § 244 StGB-DDR). Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und ist mit den dafür geltenden Grundsätzen vom Senat in seinem Urteil vom heutigen Tage (- 5 StR 713/94 –, zum Abdruck in BGHSt bestimmt, mit zahlreichen Nachweisen) nochmals eingehend dargelegt und bekräftigt worden. Die von Art. 315 EGStGB und § 2 StGB vorausgesetzte Unrechtskontinuität besteht; eine Bestrafung ist weder durch Verfolgungsverjährung noch durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen.
[21] 2. Nicht jede unrichtige Anwendung des Rechts stellt eine Rechtsbeugung dar; Rechtsbeugung begeht nur der Amtsträger, der sich bewußt in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. An dieser bereits in früheren Entscheidungen entwickelten Einschränkung des Tatbestandes ist für die Behandlung der DDR-Justiz festzuhalten; dies gilt auch für den besonders sensiblen Bereich der politisch motivierten Strafjustiz.
[22] a) Eine Bestrafung von Richtern der DDR wegen Rechtsbeugung ist, abgesehen von Einzelexzessen, auf Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war und in denen insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, daß sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt; namentlich drei Fallgruppen kommen hier als mögliche Rechtsbeugungstatbestände in Betracht: Fälle, in denen Straftatbestände überdehnt worden sind; Fälle, in denen die verhängte Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der abgeurteilten Handlung gestanden hat; schwere Menschenrechtsverletzungen durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren (näher BGHSt 40, 30, 42 f.).
[23] Bei der extensiven Auslegung von Strafnormen sind die Grenzen zur bereits den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllenden "Überdehnung" freilich fließend. Soweit die Auslegung einer Strafnorm zum Nachteil des Beschuldigten offensichtlich die äußersten Grenzen hinnehmbarer Rechtsanwendung berührt, wird bei gleichzeitiger Verhängung einer im vorgesehenen Strafrahmen besonders schwerwiegenden Rechtsfolge die Annahme von Rechtsbeugung wegen eines unerträglichen Mißverhältnisses der Strafe zu der abgeurteilten Handlung in Betracht kommen. Dies ist nicht auf absolut besonders schwere Strafen beschränkt, sondern kann allein bei Verhängung einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe für einen offensichtlichen Grenzfall gegeben sein.
[24] b) Als notwendige Konsequenz aus der speziellen Regelung für eine eingeschränkte strafrechtliche Verantwortung ist auch den Richtern der DDR die "Sperrwirkung" des Rechtsbeugungstatbestandes uneingeschränkt zuzubilligen.
[25] 3. Bei der danach gebotenen Untersuchung jedes Einzelfalls ist grundsätzlich vom (gesetzten) Recht der DDR und nicht von Wertmaßstäben des Grundgesetzes auszugehen.
[26] Das geschriebene Recht der DDR war, auch soweit es durch die strafrechtliche Verfolgung von Menschen, die lediglich von Ausreisefreiheit, Meinungsfreiheit oder Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Gebrauch machen wollten, in offenem Widerspruch zu Menschen- und Völkerrecht stand, geltendes Recht. Anders als eine "Legalisierung" der Tötung unbewaffneter Flüchtlinge ist ein Gesetz, auch wenn es zu einer empfindlichen Bestrafung politisch Andersdenkender führen kann, bei der erforderlichen Gesamtabwägung der widerstreitenden Gebote von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit noch kein schlechthin unerträgliches Unrecht.
[27] Bei der Auslegung der danach im Ansatz verbindlichen DDR-Gesetze kommt es auf die Auslegungsmethoden der DDR unter Berücksichtigung ihres anderen Rechtssystems und insbesondere ihres grundlegend abweichenden Grundrechtsverständnisses an, nicht auf die am Grundgesetz orientierten Wertvorstellungen der Bundesrepublik Deutschland.
[28] 4. Die aus alledem folgenden beträchtlichen Einschränkungen für eine Strafverfolgung von Richtern der DDR wegen Rechtsbeugung vermögen nichts an der Wertung zu ändern, daß die Behandlung der Betroffenen durch die DDR-Justiz in allen Fällen "politischen Strafrechts", wie sie hier zur Prüfung stehen, im Sinne der Maßstäbe des Grundgesetzes rechtsstaatswidrig war.
[29] II. In fünf Fällen hat die Revision der Angeklagten mit der Sachrüge zum Schuldspruch Erfolg. Der Senat entscheidet insoweit gemäß § 354 Abs. 1 StPO in der Sache selbst und erkennt auf Freispruch. Die Annahme von Rechtsbeugung durch die Angeklagte kommt hier nicht in Betracht, weil sich eine gesetzwidrige Entscheidung im Sinne offensichtlicher Willkür noch nicht sicher feststellen läßt.
[30] 1. Dies gilt zunächst für die im April 1978 erfolgte Verurteilung von K. (Fall II 1 des Urteils) wegen "staatsfeindlicher Hetze" (§ 106, teilweise i. V. m. § 108 StGB-DDR, in der Neufassung vom 19. Dezember 1974, GBl I 1975 Nr. 3 S. 13) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten. Dem Betroffenen wurde zur Last gelegt, seit Oktober 1977 wiederholt in Gesprächen mit Arbeitskollegen die staatlichen und politischen Verhältnisse in der DDR diskriminiert zu haben.
[31] a) Die Anwendung der Straftatbestände überschritt – gemessen am Rechtsverständnis der DDR – die Grenzen möglicher Auslegung nicht.
[32] Die Auffassung des Landgerichts, daß eine Strafbarkeit nach § 106 StGB-DDR einen "Angriff gegen die DDR" voraussetzte "und nicht lediglich eine andere, wenn auch gesellschaftskritische Meinungsäußerung", findet im Normtext keine Stütze. Der Hinweis der Strafkammer auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit verkennt die aus dem "sozialistischen" Verfassungsverständnis folgenden Beschränkungen des Art. 27 der DDR-Verfassung (vgl. Senatsurteil vom heutigen Tage – 5 StR 713/94 – C I 1 a).
[33] b) Auch die Strafzumessung erfüllt hier noch nicht die Voraussetzungen einer gesetzwidrigen Entscheidung im Sinne des § 244 StGB-DDR. Die verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten stellt sich zwar als für ein Meinungsäußerungsdelikt gänzlich unverhältnismäßig dar. Als Rechtsbeugung nach den oben genannten Maßstäben muß sie jedoch noch nicht erscheinen. Die Feststellungen des von der Angeklagten verfaßten Urteils lassen erkennen, daß der Betroffene bei seinen Kollegen tatsächlich Zweifel an der Richtigkeit der SED-Politik geweckt hat, wobei er zudem aus noch nachvollziehbarer Sicht der Angeklagten in den Gesprächen mit seinen Mitarbeitern "seine Autorität als Vorgesetzter ausspielte". Schließlich wurde der Tatbestand über einen nicht unerheblichen Zeitraum mehrfach verwirklicht, so daß über den bei weitem nicht ausgeschöpften Strafrahmen aus § 106 Abs. 1 StGB-DDR hinaus sogar ein erhöhter Strafrahmen (vgl. § 64 Abs. 3 StGB-DDR) zur Verfügung gestanden hätte.
[34] c) Ein Mißbrauch des Verfahrensrechts (vgl. dazu BGHSt 40, 272, 284 f.), namentlich in Form wissentlicher Entstellung des der Verurteilung zugrunde gelegten Sachverhalts, ist der Angeklagten weder in diesem noch in einem anderen Fall als Rechtsbeugung angelastet worden. Anhaltspunkte hierfür sind nicht ersichtlich, so daß auch dieser Aspekt einer Durchentscheidung auf Freispruch in keinem Fall entgegenstehen kann.
[35] 2. Die im Juli 1978 erfolgte Verurteilung von H. und F. (Fall II 2 des Urteils) zu Freiheitsstrafen von jeweils drei Jahren und sechs Monaten wegen "mehrfacher staatsfeindlicher Hetze" (§ 106 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StGB- DDR), wegen (teilweise versuchter) "Nachrichtenübermittlung" (§ 98 StGB-DDR, in der Neufassung vom 19. Dezember 1974, GBl I 1975 Nr. 3 S. 13) und wegen versuchter "Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit" (§ 214 StGB-DDR, idF des 2. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 7. April 1977, GBl I Nr. 10 S. 100) erfüllt ebenfalls noch nicht den Tatbestand der Rechtsbeugung. Die Betroffenen wurden für schuldig befunden, zur Unterstützung ihrer Ausreisebegehren über Bekannte in der Bundesrepublik Deutschland verschiedene persönliche Angaben enthaltende Schreiben, die ferner erhebliche gegen die DDR gerichtete Unmutsäußerungen enthielten, an – teils auch internationale – Organisationen versandt zu haben. Darüber hinaus wurde ihnen vorgeworfen, in Briefen an den Minister des Inneren bzw. den Staatsratsvorsitzenden der DDR für den Fall einer weiteren Verweigerung der Ausreisegenehmigung mit der Einschaltung "internationaler Organisationen" gedroht zu haben.
[36] a) Die Anwendung der herangezogenen Straftatbestände hielt sich noch in den Grenzen möglicher Gesetzesinterpretation nach den Auslegungskriterien der DDR. Mit seiner den Schuldspruch gegen die Angeklagte stützenden, namentlich auf die Bedeutung von Ausreisefreiheit und Meinungsfreiheit sowie auf das verfassungsrechtlich garantierte Eingaberecht (Art. 103 der DDR-Verfassung) abstellenden Argumentation legt das Landgericht wiederum den hier nicht zutreffenden Maßstab zugrunde (vgl. oben 1 a).
[37] b) Auch die Strafzumessung erfüllt die Voraussetzungen einer Rechtsbeugung noch nicht. Die unverhältnismäßigen und rechtsstaatswidrigen Strafen sind trotz ihrer augenfälligen Höhe noch dem unteren Bereich des Strafrahmens des – freilich in seiner Anwendung nicht unproblematischen – § 98 StGB-DDR entnommen. Ferner konnten in der wiederholten Begehung sowie nach der Betrachtungsweise der DDR-Justiz sowohl in der Auswahl der Adressaten der Schreiben als auch in der Schärfe verschiedener Formulierungen erschwerende Umstände gesehen werden.
[38] 3. Die im April 1984 erfolgte Verurteilung des Zahnarztes Dr. Br. (Fall II 6 des Urteils) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen "landesverräterischer Agententätigkeit in Tateinheit mit Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall" (§ 100 Abs. 1, § 213 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 4 StGB-DDR, idF des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl I Nr. 17 S. 139) erfüllt den Tatbestand der Rechtsbeugung nicht. Dem Betroffenen wurde vorgeworfen, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag aufgesucht zu haben, wo ihm ein Reisepaß der Bundesrepublik Deutschland ausgestellt wurde; mit Hilfe dieses Ausweises hoffte er, die DDR über Ungarn und Jugoslawien verlassen zu können.
[39] a) Die herangezogenen Strafvorschriften sind durch die Angeklagte nicht überdehnt worden.
[40] aa) Die Besuche des Betroffenen in der Botschaft konnten in den Grenzen des möglichen Wortsinns als Verbindungsaufnahme mit einer fremden Macht angesehen werden. Auch die Annahme der subjektiven Zielrichtung des Verfolgten, "die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen", erscheint angesichts des von dem Betroffenen verfolgten Planes als noch nachvollziehbar.
[41] bb) Auch die Vorbereitung eines "ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall" konnte von der Angeklagten als gegeben erachtet werden. Zwar mag es entgegen den von der Angeklagten verfaßten Urteilsgründen an der darin genannten Urkundenfälschung (§ 240 StGB-DDR) gefehlt haben, weil der von der Bundesrepublik Deutschland für den Betroffenen ausgestellte Reisepaß lediglich eine schriftliche Lüge (Eintragung des Wohnorts Nürnberg) enthielt, im übrigen aber eine "echte Urkunde" darstellte. Die Flucht sollte aber jedenfalls nach Vorstellung der DDR-Justiz durch "Mißbrauch von Urkunden" im Sinne des § 213 Abs. 3 Nr. 4 StGB-DDR bewerkstelligt werden. Eine derartige Ungenauigkeit bei der Subsumtion strafbaren Verhaltens ist keine Willkür. Die Folgerung des Landgerichts, die Angeklagte habe "- um das sich aus § 213 Abs. 3 Nr. 4 StGB/DDR ergebende erhöhte Strafmaß anwenden zu können – behauptet, die von dem damaligen Angeklagten begangene Tat sei durch Urkundenfälschung begangen worden" (UA S. 124), liegt daher fern. Gegen sie spricht zudem, daß der bestimmende Strafrahmen im vorliegenden Fall der des § 100 StGB-DDR (Höchststrafe von zehn Jahren) und nicht der des § 213 Abs. 3 StGB-DDR (Höchststrafe von acht Jahren) war.
[42] b) Angesichts dieses Strafrahmens erscheint auch die von der Angeklagten gegen den Betroffenen verhängte Freiheitsstrafe noch nicht als Rechtsbeugung.
[43] 4. Die im Januar 1986 erfolgte Verurteilung des 21jährigen R. zu neun Jahren Freiheitsstrafe und des 20jährigen Bo. zu fünf Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe (Fall II 7 des Urteils) wegen (vorbereiteten, versuchten und vollendeten) "staatsfeindlichen Menschenhandels" (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 StGB-DDR, idF des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl I Nr. 17 S. 139) sowie wegen "Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall" (§ 213 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 4 StGB-DDR) bzw. wegen Beihilfe hierzu stellt sich noch nicht als willkürliche Unterdrückungsmaßnahme dar. Der frühere DDR-Bürger R., der u. a. wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und inzwischen aus dem DDR-Strafvollzug in die Bundesrepublik entlassen worden war, wurde für schuldig befunden, an organisierter Fluchthilfe für verschiedene Bürger der DDR beteiligt gewesen zu sein. Bo. – auch ein ehemaliger Bürger der DDR, dem die Übersiedlung zu seiner Verlobten nach Hamburg genehmigt worden war – wurde ebenfalls die Beteiligung an einer Fluchthilfe-Organisation vorgeworfen. Ferner habe R. sich mit Hilfe Bo. einen Reisepaß der Bundesrepublik Deutschland mit einem unzutreffenden Geburtsdatum beschafft, um eine "Einreisesperre" in die DDR zu umgehen.
[44] a) Die von der Angeklagten angewendeten Strafbestimmungen sind innerhalb der Grenzen des Normtextes ausgelegt worden.
[45] aa) Die Beteiligung an organisierter Fluchthilfe, durch die – wie hier – in Kraftfahrzeugen versteckten DDR-Bürgern das Verlassen der DDR über die Transitwege ermöglicht werden sollte, erfüllte den Verbrechenstatbestand des § 105 StGB-DDR aus Sicht der DDR-Justiz zweifellos (vgl. Kommentar zum StGB-DDR, hrsg. vom Ministerium der Justiz und von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, 5. Aufl. 1987 § 105 Anm. 3).
[46] bb) Auch die Voraussetzungen der Vorbereitung eines "ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall" durch R. bzw. einer Beihilfe hierzu durch Bo. waren nach dem Wortlaut des § 213 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 4 StGB-DDR durch Umgehung eines Einreiseverbots ohne weiteres erfüllt. Das Verhalten der Verfolgten war entgegen der Auffassung des Landgerichts (UA S. 96, 125 f.) auf die Verwirklichung des § 213 Abs. 3 Nr. 4 StGB-DDR gerichtet, auch wenn es sich bei dem Paß nicht um eine unechte Urkunde gehandelt hat (vgl. oben 3 a bb). Beide Betroffene hatten den Paß gezielt mit einem unzutreffenden Geburtsdatum ausstellen lassen und damit naheliegend eine Falschbeurkundung nach § 242 StGB-DDR begangen, jedenfalls – worauf die Revision der Angeklagten abhebt – die Tat unter "Mißbrauch von Urkunden" begehen wollen. Abgesehen davon hatte auch hier der Strafrahmen des § 213 Abs. 3 StGB-DDR (Höchststrafe von acht Jahren) keine entscheidende Bedeutung, weil die Betroffenen in erster Linie aus dem Tatbestand des § 105 StGB-DDR (Höchststrafe von fünfzehn Jahren) verurteilt worden sind.
[47] b) Selbst die außerordentlich hohen Freiheitsstrafen, die gegen die Betroffenen verhängt worden sind, stellen sich letztlich nicht als offensichtlicher Willkürakt dar. Freilich bewegen sich die verhängten Rechtsfolgen, namentlich mit Rücksicht auf das junge Lebensalter der Verfolgten, an der Grenze zur unerträglichen Menschenrechtsverletzung. Andererseits waren die Strafen jedenfalls nicht dem oberen Bereich des Strafrahmens entnommen, obwohl die Betroffenen jeweils an mehreren "Schleusungsaktionen" beteiligt waren. Schließlich hatten die Betroffenen sich bei ihrer Hilfe für Ausreisewillige erkennbar nicht ausschließlich von humanitären Vorstellungen leiten lassen, sondern waren maßgeblich auf kommerzielle Fluchthilfe mit nicht unerheblichem eigenen Gewinnstreben bedacht.
[48] 5. Die im April 1986 erfolgte Verurteilung von Ber. zu zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe und von Kl. zu einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsstrafe (Fall II 8 des Urteils) wegen "gemeinschaftlicher teils versuchter landesverräterischer Agententätigkeit", "Zusammenschlusses zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele", "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" und (nur Ber. betreffend) "Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit" (§ 100, § 218 Abs. 1, § 219 Abs. 2 Nr. 1, § 214 Abs. 1 StGB-DDR, jeweils idF des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl I Nr. 17 S. 139) erfüllt nicht den Tatbestand einer gesetzwidrigen Entscheidung. Den Betroffenen wurde vorgeworfen – jeweils zur Unterstützung ihrer Ausreisebegehren –, Verbindung zu verschiedenen Organisationen aufgenommen und sich mit mindestens neun anderen ausreisewilligen Personen zum Austausch von Gedanken und Erfahrungen über Ausreisestrategien zusammengeschlossen zu haben; Ber. habe darüber hinaus beim Rat des Stadtbezirksgerichts Friedrichshain angekündigt, mit "Massenmedien in der BRD" Verbindung aufzunehmen, falls seinem Ausreisebegehren nicht entsprochen werde.
[49] Die Subsumtion des Verhaltens der Betroffenen unter die angewendeten Strafbestimmungen hielt sich – namentlich im Blick auf die von den Betroffenen verfolgten Publikationsabsichten – noch in den Grenzen des möglichen Wortsinns der jeweiligen Normen. Soweit die Feststellungen des Urteils gegen Ber. nicht belegen, daß "der ordnungsgemäße Tätigkeitsablauf eines staatlichen Organs" tatsächlich beeinträchtigt worden ist (vgl. Kommentar zum StGB-DDR aaO § 214 Anm. 3), kam jedenfalls versuchte Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit (§ 214 Abs. 5 StGB-DDR) in Betracht. Eine solche lediglich fehlerhafte Einordnung strafbaren Verhaltens, wie sie naheliegend auf Nachlässigkeit beruht, stellt sich regelmäßig nicht als Rechtsbeugung dar (Senatsurteil vom heutigen Tage – 5 StR 713/94 – C I 4 a).
[50] Die Strafzumessung durch die Angeklagte war auch hier rechtsstaatswidrig und unverhältnismäßig. Sie erreicht indes im Blick auf die den Betroffenen angelasteten mehrfachen Gesetzesverletzungen nicht den Grad eines unerträglichen Willkürakts.
[51] III. In drei Fällen bleibt die Revision der Angeklagten zum Schuldspruch ohne Erfolg. Hier hat das Landgericht die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer Rechtsbeugung im Ergebnis zutreffend festgestellt.
[52] 1. Die im Juli 1982 erfolgte Verurteilung des Diplom-Mathematikers Bo. (Fall II 3 des Urteils) zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren wegen "staatsfeindlicher Hetze" (§ 106 Abs. 1 StGB-DDR, während der Tatbegehung novelliert und verschärft durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. Juni 1979, GBl I Nr. 17 S. 139) stellt sich als eine wissentlich gesetzwidrige Entscheidung im Sinne des § 244 StGB-DDR dar. Dem Betroffenen wurde insbesondere zur Last gelegt, von Ende 1975/Anfang 1976 bis 1980 "Hetzschriften" hergestellt und/oder verbreitet zu haben. Hierbei handelte es sich namentlich um die in der Bundesrepublik gedruckte Zeitschrift "Roter Morgen" sowie verschiedene Flugblätter, im Tatzeitraum weit über eintausend Exemplare von Schriften.
[53] a) Allerdings läßt sich dem landgerichtlichen Urteil nicht entnehmen, daß der Tatbestand des § 106 Abs. 1 StGB-DDR durch die Angeklagte überdehnt worden wäre. Der Hinweis der Strafkammer, der Betroffene sei bestraft worden, obwohl er "ausschließlich von dem ihm nach Art. 27 der Verfassung der DDR zustehenden Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hatte" (UA S. 121), geht auf ein nicht zutreffendes Verständnis vom Maßstab für die Auslegung und Anwendung der DDR-Verfassung zurück und ist als solcher für die Verurteilung der Angeklagten nicht tragfähig. Vielmehr machen die von der Angeklagten im damaligen Verfahren getroffenen Feststellungen hinreichend deutlich, worin aus Sicht der DDR-Justiz der Angriff bzw. die Aufwiegelung gegen die "verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung" gelegen haben.
[54] b) Die gegen Bo. verhängte Freiheitsstrafe von acht Jahren erscheint indes als unerträglicher Willkürakt und offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzung. Wie der Senat in seinem Urteil vom heutigen Tage (- 5 StR 713/94 – C I 1 b; vgl. auch zur Beurteilung eines Parallelfalles: Senatsurteil vom heutigen Tage – 5 StR 168/95 – C II 1) nochmals bekräftigt hat, ist eine Beugung des Rechts durch das Verhängen einer überhöhten Strafe möglich (vgl. schon BGHSt 3, 110, 118 ff.; 4, 66, 69 ff.; 10, 294, 300 f.; BGH GA 1958, 241; NJW 1960, 974, 975). Angesichts der Beschränkung des Rechtsbeugungstatbestandes auf offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzungen durch überhöhte Bestrafung kann dies – entgegen der Ansicht von Buchholz (ZAPOst 1994, 187, 192) – auch bei Anwendung des § 244 StGB-DDR keinen Bedenken unterliegen (vgl. auch BGHSt 40, 272, 283 f.). Die Beachtung des dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechenden Proportionalitätsgrundsatzes bei der Strafzumessung wurde auch in der DDR gesetzlich vorgesehen (vgl. den Hinweis auf die Schwere der Schuld in § 61 Abs. 2 Satz 1 StGB-DDR sowie Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der DDR-Verfassung).
[55] aa) Bei dem Verfolgten handelte es sich um einen unbestraften Bürger, der ein sozial eingeordnetes Leben geführt hatte. Er ging bis zu seiner Inhaftierung ständig geregelter Arbeit nach, war verheiratet und Vater zweier Kinder. Abgesehen von den erschwerenden Umständen des äußeren Tatbildes – namentlich das planmäßige Vorgehen über einen langen Tatzeitraum und die Vielzahl der hergestellten bzw. verbreiteten Schriften – läßt das Urteil gegen den – zudem "geständigen" – Verfolgten keine wirklich gravierenden in seiner Person liegenden Strafschärfungsgründe erkennen. Dementsprechend erschöpfen sich die von der Angeklagten festgehaltenen Strafzumessungsgründe weitgehend in politischen Aussagen, die sich von einer eigentlichen Auseinandersetzung mit der "Persönlichkeit des Täters" (vgl. § 61 Abs. 2 StGB-DDR) gänzlich entfernen (UA S. 46 f.). Eine derart massive Freiheitsstrafe, die letztlich für ein bloßes Meinungsäußerungsdelikt verhängt wird, verstößt – nicht zuletzt angesichts der notorischen Härte des Strafvollzugs in der DDR (vgl. BGHSt 38, 71, 73), der auch und gerade politische Häftlinge ausgesetzt waren – gegen das Verbot grausamen und übermäßig harten Strafens (vgl. bereits BGHSt 3, 110, 119; 10, 294, 300 f.). Ein Strafrichter begeht, mag auch sein Schuldspruch keine vorsätzliche Rechtsbeugung enthalten, dennoch Rechtsbeugung, wenn er bewußt eine Strafe verhängt, die nach Art oder Höhe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der Schwere der Tat und der Schuld des Täters steht (BGH NJW 1960, 974, 975 – insoweit in BGHSt 14, 147 nicht abgedruckt). Eine solche in einem unerträglichen Mißverhältnis zu etwa begangenem Unrecht und möglicher Schuld stehende Art des Strafens entspricht nicht mehr sachlichen Erwägungen. Sie erscheint willkürlich, weil sie erkennbar allein darauf abzielt, durch übermäßige Strenge politisch Andersdenkende einzuschüchtern und damit die Herrschaft der Machthaber zu sichern (vgl. schon BGHSt 4, 66, 70).
[56] bb) Die Annahme einer willkürlichen Menschenrechtsverletzung durch unmenschliche Härte bei der Strafzumessung setzt in Fällen der vorliegenden Art freilich voraus, daß lediglich (oder ganz überwiegend) die Bestrafung einer den staatlichen Machthabern unerwünschten und deshalb pönalisierten Meinungsäußerung in Rede steht. Die Pönalisierung kritischer Meinungsäußerungen stellt zwar mit Rücksicht auf die Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, auch wenn sie den Bereich anzuerkennender Strafzwecke verläßt und so weit geht, daß sie den Grad offensichtlicher Rechtsstaatswidrigkeit erreicht, noch kein unerträgliches Unrecht im Sinne des Radbruchschen Konzepts dar. Indes sind bei der Anwendung entsprechenden Strafrechts einem Staat jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite engere Grenzen gezogen, als dies bei Delikten der Fall sein mag, die über eine bloße Meinungsäußerung hinausgehen. Werden diese Grenzen überschritten, liegt kein an der Verwirklichung von Gerechtigkeit (vgl. § 61 Abs. 1 StGB-DDR) orientierter Rechtsprechungsakt mehr vor, sondern willkürliche Unterdrückung und gezielte Ausschaltung eines politischen Gegners.
[57] cc) Hier hat das Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellt, daß dem Verfolgten Bo. jedenfalls ganz überwiegend lediglich kritische Meinungsäußerungen zur Last gelegt wurden, die auch im Rahmen der Gesetze der DDR schlechterdings nicht mit einem Freiheitsentzug von acht Jahren belegt werden durften.
[58] (1) Daß auch aus der Sicht der Angeklagten in den "Hetzschriften" – von vernachlässigenswerten möglichen Randerscheinungen abgesehen – keine Aufforderung zu oder Billigung von über etwaige Meinungsäußerungsdelikte hinausgehenden "staatsfeindlichen" Handlungen zum Ausdruck gekommen ist, ergibt sich bereits aus den von der Angeklagten verfaßten Urteilsgründen. Dabei übersieht der Senat nicht, daß der Betroffene auch nach § 106 Abs. 1 Nr. 2 StGB-DDR aF bzw. § 106 Abs. 1 Nr. 4 StGB-DDR nF wegen der "Aufforderung zur Widerstandsleistung gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung" (vgl. UA S. 44) verurteilt worden ist. Diese Aufrufe gingen indes, auch soweit – in einer verglichen mit der Gesamtzahl verschwindend geringen Zahl von Fällen ab Mitte 1980 – in Schriften sowie auf Plakaten oder sonstigen Inschriften zur Nachahmung des Freiheitskampfes der polnischen Gewerkschaften aufgefordert wurde, über plakative Parolen nicht hinaus; zu "Widerstandsleistungen" in der Form konkreter Beeinträchtigung anerkannter Rechtsgüter wurde nicht aufgerufen, auch wenn letztlich zur Überwindung des bestehenden Systems oder bestimmter Einrichtungen (etwa des FDGB) aufgefordert wurde. In diesem Zusammenhang weist die Strafkammer (UA S. 113) zutreffend darauf hin, daß dem Verfolgten in dem Urteil keinerlei etwa geplante Gewalttaten zur Last gelegt werden, dies aber mit Sicherheit geschehen wäre, wenn auch nur einer der von Bo. verfaßten Beiträge einen derartigen Aufruf enthalten hätte. Dieser Schluß des Tatrichters ist tragfähig; er wird zudem gestützt durch die von der Strafkammer für glaubhaft erachtete Bekundung des Betroffenen, die von ihm verfaßten Schriften hätten insgesamt einen vergleichbaren Inhalt gehabt wie neun in der Hauptverhandlung verlesene Artikel (UA S. 48—61). Diese Beiträge zeichnen sich zwar durch zum Teil harsche Kritik und ätzende Ironie aus, so daß sie zweifellos grundsätzlich geeignet waren, eine "staatsfeindliche" Stimmung zu nähren. Eine Aufforderung zu oder Billigung von Verletzungen anerkannter Rechtsgüter anders als durch bloße Meinungsäußerung kommt in ihnen jedoch nicht zum Ausdruck.
[59] (2) Allerdings bezieht sich die Würdigung des Landgerichts ihrem Wortlaut nach nur auf die von dem Verfolgten Bo. "verfaßten" Beiträge. Diese Sicht wäre indes verkürzt. Nach dem von der Angeklagten hier nicht überdehnten Tatbestand des § 106 Abs. 1 StGB-DDR setzte eine Bestrafung wegen "staatsfeindlicher Hetze", namentlich in den in Nr. 2 der novellierten Strafbestimmung genannten Varianten (Herstellen, Einführen, Verbreiten oder Anbringen) nicht voraus, daß der Täter der Autor von "Hetzschriften" war. Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen, insbesondere dem von der Angeklagten verfaßten Urteil gegen den Betroffenen, läßt sich jedoch hinreichend deutlich entnehmen, daß die seinerzeit verfahrensgegenständlichen Schriften keinen über bloße Meinungsäußerungsdelikte hinausgehenden Inhalt hatten. Diese Würdigung der Strafkammer läßt auch keinen sachlichrechtlichen Fehler erkennen, obwohl der Tatrichter – wie von der Revision mit einer erfolglosen Verfahrensrüge beanstandet (vgl. oben B VI) – nur einen Teil der vom Verfolgten Bo verbreiteten Schriften im Detail ausgewertet hat. Einer ins einzelne gehenden Erörterung sämtlicher Schriften bedurfte es nach Lage des Falles nicht.
[60] dd) Auch im übrigen konnte der "Unrechtsgehalt der Tat", wie er von der DDR-Justiz zu verstehen sein mochte, die Höhe der hier verhängten Strafe nicht annähernd plausibel machen. Die von der Angeklagten verfaßten Urteilsgründe stellen mit ihren die Staatspropaganda wiederholenden Gemeinplätzen eindeutig allenfalls auf den Gesichtspunkt abstrakter Gefährlichkeit der Tat ab: die "besondere Gesellschaftsgefährlichkeit" bestehe darin, daß die Straftaten des Verfolgten "teilweise unter Mißbrauch völkerrechtlicher Verträge begangen wurden, über die Landesgrenzen wirkten und den Entspannungsfeinden und Konfrontationspolitikern in die Hand arbeiteten"; "gerade darin" lägen "auch die Folgen derartiger Verbrechen"; sie schadeten "nicht nur dem internationalen Ansehen der DDR, sondern sind – im Ausland organisiert – Bestandteil der stabsmäßig geführten, koordinierten Hetze gegen die sozialistische DDR mit dem Ziel, sie im Ergebnis zu beseitigen" (UA S. 46/47). Daß die dem Betroffenen vorgeworfene "staatsfeindliche Hetze" auch nur in einem beschränkten Umfang erkennbare Auswirkungen gehabt hätte, ist nicht festgestellt. Solche Auswirkungen liegen auch denkbar fern.
[61] c) Auch die subjektiven Voraussetzungen einer gesetzwidrigen Entscheidung sind vom Landgericht tragfähig dargetan. Zwar stellt die Strafkammer in ihrer rechtlichen Würdigung des Falles (UA S. 121) mit ihrem Hinweis auf das von der DDR-Verfassung gewährte Recht auf freie Meinungsäußerung möglicherweise zu Unrecht auch auf den Aspekt der Überdehnung des Tatbestandes ab. Sie macht aber deutlich, daß eine Rechtsbeugung schon deshalb vorliege, weil die Entscheidung der Angeklagten ausschließlich der Ausschaltung eines politischen Gegners gegolten habe; darüber hinaus berücksichtigt der Tatrichter ausdrücklich den Gesichtspunkt der extrem hohen Bestrafung und belegt ihn mit zutreffenden Gesichtspunkten. Auch den Umstand, daß die verhängte Freiheitsstrafe mit Rücksicht auf § 64 Abs. 3 StGB-DDR nicht die denkbare Höchststrafe darstellte, hat das Landgericht nicht verkannt.
[62] 2. Durch die im März 1983 erfolgte Verurteilung der Eheleute D. von D. zu zwei Jahren und zehn Monaten sowie R. von D. zu zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe (Fall II 4 des Urteils) wegen "landesverräterischer Nachrichtenübermittlung" (§ 99 Abs. 1 StGB-DDR, idF des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl I Nr. 17 S. 139) hat sich die Angeklagte ebenfalls wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht. Die Annahme eines Verbrechens nach § 99 StGB-DDR überschreitet hier die Grenzen möglicher Gesetzesinterpretation. Den Betroffenen wurde vorgeworfen, die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland aufgesucht und dort die Kopien von zwei Schreiben an den Rat des Stadtbezirks Treptow abgegeben zu haben, in denen die Eheleute unter Berufung auf Menschen- und Völkerrecht ihre Ausreise aus der DDR beantragt hatten; darüber hinaus wurde den Verfolgten angelastet, die Weiterleitung eines ihre vergeblichen Ausreisebemühungen betreffenden Schreibens über eine in der Bundesrepublik wohnhafte Verwandte an das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen vorbereitet zu haben.
[63] a) Die den Verfolgten vorgeworfene Aushändigung von Durchschriften ihrer beiden Ausreiseanträge an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR und die beabsichtigte Übermittlung des Ausreisebegehrens an das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen konnten zwar ohne Überdehnung des Normtextes als Übergabe oder Zugänglichmachen von "Nachrichten" an eine "fremde Macht" bzw. als entsprechende Sammlung von Nachrichten verstanden werden. Die Annahme eines Handelns "zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik" erscheint aber auch aus Sicht der DDR-Justiz nicht mehr nachvollziehbar.
[64] aa) Der Begriff "Interessennachteil" war freilich eher weit definiert (vgl. Kommentar zum StGB-DDR aaO § 99 Anm. 2). Trotzdem konnte ein Interessennachteil im Sinne des § 99 StGB-DDR hier im Rahmen gesetzmäßiger Norminterpretation augenfällig nicht bejaht werden. Die Maßstäbe für die äußersten Grenzen zulässiger Auslegung von Strafgesetzen unterscheiden sich für die Rechtsanwendung in der DDR nicht grundsätzlich von denen der Bundesrepublik Deutschland; danach richtet sich die Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Norm, begrenzt durch den Wortlaut (vgl. BGHSt 40, 272, 279). Insbesondere bei Strafbestimmungen, die in Verbindung mit "offenen" Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite extrem hohe Strafen auf der Rechtsfolgenseite androhen, ist jedenfalls ein Minimum an Restriktionsbemühungen die Voraussetzung gesetzmäßiger Rechtsanwendung. Dies gilt für § 99 StGB-DDR offensichtlich.
[65] Die Vorschrift gegen die "landesverräterische Nachrichtenübermittlung" sieht eine Mindeststrafe von zwei Jahren und eine Höchststrafe von zwölf Jahren vor. Ein solcher Strafrahmen findet sich auch im StGB-DDR nur selten; vergleichbare Sanktionsdrohungen sind außerhalb der Bestimmungen über "Staatsverbrechen" regelmäßig schwerwiegenden Delikten gegen allgemein anerkannte Rechtsgüter vorbehalten (vgl. etwa – durchweg mit Höchststrafen von zehn Jahren Freiheitsstrafe – § 121 Abs. 2 für den schweren Fall der Vergewaltigung, § 131 Abs. 2 für die Freiheitsberaubung mit Todesfolge, § 174 Abs. 3 für die schweren Fälle der Geldzeichenfälschung oder § 181 für den "verbrecherischen" Diebstahl oder Betrug). Demgegenüber sind die tatbestandlichen Anforderungen der "landesverräterischen Nachrichtenübermittlung" überwiegend von uferloser Weite. Jede Art von "Nachrichten" genügte; die Informationen brauchten ausdrücklich nicht der Geheimhaltung zu unterliegen. Als Empfänger der Nachrichten kamen alle in § 97 StGB-DDR genannten Stellen und damit nahezu jegliche ausländische staatliche oder nichtstaatliche Einrichtung oder deren Helfer in Betracht. Bei der Auslegung des § 99 StGB-DDR muß daher namentlich der Systematik der Vorschrift innerhalb der Bestimmungen im Staatsschutzstrafrecht der DDR Rechnung getragen werden. Die Interessenverletzung im Sinne des § 99 StGB-DDR muß sich, da es um ein Nachrichtenübermittlungsdelikt geht, gerade aus dem Verrat von Informationen durch den möglichen Wissenszuwachs auf der Empfängerseite ergeben.
[66] Eine Anwendung des § 99 StGB-DDR, die den Vorwurf der Willkür vermeiden wollte, mußte deshalb zumindest mit dem unbestimmten Rechtsbegriff des "Interessennachteils" zurückhaltend umgehen. Ohne Überdehnung der Bestimmung konnten insoweit nur Nachteile als tatbestandlich angesehen werden, die ein gewisses, im Einzelfall festzustellendes, im Zusammenhang mit dem Informationszuwachs beim Nachrichtenempfänger stehendes Gewicht aufwiesen. Daran fehlt es hier offensichtlich.
[67] bb) Die Übermittlung von Informationen über vergeblich angebrachte Ausreiseanträge, zumal unter ausdrücklicher Berufung auf in der DDR verbriefte Menschenrechte, konnte einem DDR-Richter freilich als geeignet erscheinen, zu einer unerwünschten und kritischen Beurteilung der DDR im Ausland beizutragen. Vor dem Hintergrund der Furcht des SED-Regimes vor Ansehensverlusten in der westdeutschen und ausländischen Öffentlichkeit (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1995 – 3 StR 605/94 –, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt) mögen die Ständige Vertretung der Bundesrepublik und das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen zudem problematische Nachrichtenempfänger gewesen sein. Die weitere Verbreitung der von den Eheleuten von D. erlangten Informationen in der Öffentlichkeit, namentlich in Massenmedien, lag hier jedoch eher fern. Vor allem kam den auf bloße Tatsachenmitteilungen beschränkten Nachrichten kein erkennbares individuelles Gewicht zu. Damit blieb der eigentliche Informationszuwachs auf der Empfängerseite denkbar gering. Daß das SED-Regime seinen Bürgern regelmäßig keine Ausreisefreiheit zuerkannte, war allgemein bekannt. Die Betroffenen repräsentierten lediglich einen nicht besonders gelagerten Einzelfall aus einer Vielzahl gleichartiger Fälle.
[68] b) Aus Sicht der DDR-Justiz mochte freilich in Fällen der vorliegenden Art ein gewisses, nicht von vornherein als willkürlich zu wertendes Strafbedürfnis empfunden worden sein. Diesem Bedürfnis trug indes der durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. Juni 1979 (GBl I Nr. 17 S. 139) neugefaßte § 219 StGB-DDR Rechnung, der in Abs. 2 Nr. 1 mit abgestuften Sanktionen (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung oder Geldstrafe) das Verbreiten von Nachrichten im Ausland unter Strafe stellte, wenn diese Nachrichten geeignet waren, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden. Hierbei ging es – anders und weitergehend als in § 99 StGB-DDR – namentlich um die vorliegend allein in Betracht kommende "Herbeiführung eines Ansehensschadens" (vgl. Erläuterungen zum 3. Strafrechtsänderungsgesetz, OG-Inf. Sonderdruck 1979, S. 68). Diese Vorschrift hätte hier möglicherweise ohne Überdehnung des Normtextes herangezogen werden können (vgl. hierzu Senatsurteil vom heutigen Tage – 5 StR 68/95 – C II 2 b). In diesem Falle wäre aber in der Verhängung der ausgesprochenen Freiheitsstrafen von zwei Jahren und zehn Monaten bzw. von zwei Jahren und vier Monaten eine offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne willkürlicher Rechtsanwendung zu erblicken gewesen. Wie der Senat in seinem Urteil vom heutigen Tage (- 5 StR 68/95 – aaO) ausgesprochen hat, bewegte sich die Annahme eines Verstoßes gegen § 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR in Fällen der vorliegenden Art offensichtlich im Grenzbereich der Tatbestandlichkeit. Auf derartige "Bagatelldelikte" durfte, angesichts der Öffnung des Strafrahmens nach unten auf Geldstrafe und Verurteilung auf Bewährung, regelmäßig nicht einmal mit vollstreckbaren Freiheitsstrafen reagiert werden, sofern nicht im Einzelfall erschwerende Umstände vorlagen. Denkbare Strafschärfungsgründe, namentlich solche, die so hohe Freiheitsstrafen wie die im vorliegenden Fall verhängten nachvollziehbar hätten rechtfertigen können, konnten aber auch aus Sicht der DDR-Justiz bei gesetzmäßiger Rechtsanwendung hier offensichtlich nicht bejaht werden.
[69] c) Auch im Fall der Eheleute von D. hat das Landgericht die innere Tatseite des § 244 StGB-DDR im Ergebnis letztlich noch tragfähig belegt. Zwar erwähnt die Strafkammer mit ihrem Hinweis auf die völkerrechtlich verankerte Ausreisefreiheit auch an dieser Stelle einen unzutreffenden Maßstab. Dies bleibt indes angesichts der Evidenz des Willküraktes unschädlich, weil der Tatrichter auch auf den zutreffenden Gesichtspunkt der offensichtlichen Menschenrechtsverletzung durch die Strafbemessung abgestellt hat (UA S. 122).
[70] 3. Auch die im Mai 1983 erfolgte Verurteilung von S. (Fall II 5 des Urteils) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen "landesverräterischer Agententätigkeit" (§ 100 Abs. 1 StGB-DDR, idF des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl I Nr. 17 S. 139) erfüllt die Voraussetzungen der Rechtsbeugung.
[71] a) Die Angeklagte hat die von ihr herangezogene Strafbestimmung willkürlich überdehnt. Die Annahme, der Verfolgte habe gehandelt, "um die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen", ist – auch bei Zugrundelegen von in der DDR herrschenden Rechtsvorstellungen – in diesem Fall nicht mehr nachvollziehbar.
[72] aa) Der Verurteilung des Verfolgten liegt nach den Urteilsfeststellungen der Angeklagten im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: S. mußte nach dem Bau der Berliner Mauer eine musikalische Ausbildung in Berlin (West) abbrechen. Er war in der DDR bis Anfang 1981 als Berufskraftfahrer tätig. Nach zwei gescheiterten Ehen und, nachdem ihm im Oktober 1981 eine Gewerbegenehmigung als Taxifahrer endgültig versagt worden war, entschloß er sich, die DDR zu verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland seinen Berufswunsch als Taxifahrer zu verwirklichen. Er suchte deshalb am 15. Dezember 1981 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR auf und erkundigte sich nach den Bedingungen und der Aussicht für eine entsprechende Konzession. Ihm wurde daraufhin geraten, zunächst einen Ausreiseantrag zu stellen, was er kurz darauf tat. Das Gesuch wurde im Mai 1982 abgelehnt. Daraufhin ließ sich der Betroffene beim Ostberliner Büro des ZDF über eine mögliche Begründung für sein Ausreisebegehren informieren. Zeitgleich mit dem zweiten Ausreiseantrag wandte sich der Betroffene telefonisch und schriftlich an die Verwaltung der Stadt Dortmund, um sich nach den Bedingungen für eine Taxi-Konzession zu erkundigen und sich als Anwärter registrieren zu lassen. Er wurde in eine Bewerberliste aufgenommen. Im Oktober 1982 berichtete S. bei der Ständigen Vertretung über seine Verhandlungen mit der Stadtverwaltung Dortmund. Zudem füllte er in der Ständigen Vertretung einen an das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen gerichteten zweiseitigen Fragebogen mit Angaben zu seiner Person und zu seinen in der Bundesrepublik lebenden Angehörigen aus. Als Begründung für seinen Ausreisewunsch nannte er "Familienzusammenführung".
[73] bb) Dieses Verhalten des Betroffenen wertete die Angeklagte als "landesverräterische Agententätigkeit". Sie warf S. vor, er habe Verbindung zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik aufgenommen, "um sie über seine Absicht, die DDR zu verlassen, zu informieren, sich beraten zu lassen und endlich eine seinem Willen entsprechende Entscheidung der DDR-Behörden herbeizuführen"; wie seine Hinwendung an die Stadtverwaltung Dortmund beweise, "kam es ihm darauf an, seine Anfragen und Bewerbungen bezüglich des Taxiunternehmens zu benutzen, seinen Willen zum Verlassen der DDR publik zu machen und die Anmaßung der Personalhoheit durch Einrichtungen der BRD über DDR-Bürger auszunutzen, um die Entscheidung staatlicher Organe der DDR zu korrigieren"; er habe "auf die völkerrechtswidrige Einmischung der BRD in die inneren Angelegenheiten der DDR" gesetzt, "welche immer die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik schädigt".
[74] cc) Diese "Subsumtion" erscheint nicht mehr als nachvollziehbare Gesetzesauslegung. Zwar hat der Verfolgte durch seine Besuche in der Ständigen Vertretung und durch seinen Kontakt zur Dortmunder Stadtverwaltung zweifellos mit einer fremden Macht bzw. deren Einrichtung (vgl. § 97 StGB-DDR) Verbindung aufgenommen. Die von § 100 StGB-DDR geforderte "staatsfeindliche Motivation" (vgl. Kommentar zu StGB-DDR aaO § 100 Anm. 3) dieser Verbindungsaufnahme läßt sich dem Sachverhalt indes offensichtlich nicht entnehmen. Der Betroffene hat lediglich mehrfach seinen mit dem Wunsch nach Familienzusammenführung bzw. mit der Hoffnung auf eine Berufsperspektive als Taxifahrer motivierten Ausreisewillen bekundet. Dies geschah ohne jede "Diskriminierung" der DDR und ohne jegliche Provokation staatlicher Stellen. Seine Handlungen erschöpften sich in einer schlichten Äußerung seines Ausreisewillens. Davon ging auch die Angeklagte in den von ihr verfaßten Urteilsgründen aus.
[75] Warum der Betroffene auch nur in Erwägung ziehen konnte, daß seine durch nichts qualifizierten Kontakte zur Ständigen Vertretung geeignet sein sollten, "die Entscheidung staatlicher Stellen der DDR zu korrigieren", bleibt unerfindlich. Die von dem Verfolgten geäußerten Bitten um Hilfe bei der Verwirklichung seines Ausreisebegehrens beschränkten sich nach den von der Angeklagten getroffenen Feststellungen im wesentlichen auf die Suche nach Beratung. Seitens der Bundesrepublik Deutschland oder ihrer Ständigen Vertretung sollten keine konkreten Aktivitäten unternommen werden, mit denen Druck auf die DDR verbunden war. Der Betroffene mag sich allenfalls vorgestellt haben, daß die Bundesrepublik seinen durch keinerlei besondere Umstände gekennzeichneten Fall im Rahmen des innerdeutschen Dialogs über humanitäre Fragen in irgendeiner Weise ins Gespräch bringen würde. Dabei lag es auf der Hand, daß seinem Fall keine Bedeutung zukam, die über das gewöhnliche Maß bei Ausreisebegehren hinausging. Die Möglichkeit diplomatischer Verwicklungen oder auch nur gesteigerter Beachtung im Ausland war sicher auszuschließen und konnte dem Verfolgten auch nicht entfernt in den Sinn gekommen sein. Auf eine den Interessen der DDR widerstreitende Veröffentlichung der vom Betroffenen weitergegebenen Informationen hat die Angeklagte zur Begründung der erstrebten Schädigung der Interessen der DDR in ihrem Urteil nicht maßgeblich abgestellt.
[76] b) Eine offensichtliche und schwere Menschenrechtsverletzung läge auch dann vor, wenn das Verhalten des Verfolgten – zumindest aus Sicht der Angeklagten – wenigstens die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR (vgl. entsprechend 2 b) erfüllt haben sollte. Eine Anwendung dieser Strafnorm mag auch bei Fehlen des weitergehenden subjektiven Tatbestandes in § 100 StGB-DDR in Betracht gekommen sein. Gleichwohl mußte sich in vergleichbaren Grenzfällen der "ungesetzlichen Verbindungsaufnahme" regelmäßig der Bagatellcharakter der Verfehlung aufdrängen, der eine Ahndung der Tat mit vollstreckbarer Freiheitsstrafe verbot (vgl. näher Senatsurteil vom heutigen Tage – 5 StR 68/95 – C II 2 b).
[77] c) Die gegen den unbescholtenen S. verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren stellte sich danach jedenfalls im Blick auf das gänzlich überzogene Strafmaß als offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne willkürlicher Rechtsanwendung dar. Sie diente nicht mehr der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern ausschließlich der rücksichtslosen Unterdrückung eines Ausreisewilligen.
[78] D. Angesichts der Bildung einer Hauptstrafe in Anwendung des StGB-DDR ist nach der Reduzierung des Schuldspruchs der Strafausspruch auf die Revision der Angeklagten insgesamt aufzuheben.
[79] Auch die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte, zuungunsten der Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Der Strafausspruch enthält jedenfalls deshalb Rechtsfehler zugunsten der Angeklagten, weil sich das Landgericht nicht in rechtsfehlerfreier Weise mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob das Recht der DDR oder das StGB anzuwenden ist. Es hat den Strafrahmen des § 244 StGB-DDR (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) und den des § 336 StGB (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren) verglichen und gemäß § 2 Abs. 3 StGB die Strafvorschrift des § 244 StGB-DDR angewendet. Die Vollstreckung der nach § 64 StGB-DDR gebildeten Hauptstrafe hat die Strafkammer sodann nach § 56 Abs. 1 und 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt. Damit hat der Tatrichter bei verschiedenen Schritten der Rechtsfindung die aus seiner Sicht für die Angeklagte jeweils günstigere Regelung zugrundegelegt. Diese Rechtsfolgenbestimmung verletzt den Grundsatz strikter Alternativität (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 1995 – 3 StR 93/95 – mN).
[80] Der neue Tatrichter wird bei der Verhängung einer Strafe für die verbleibenden drei Fälle der Rechtsbeugung zu prüfen haben, ob der eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht vorsehende § 244 StGB-DDR oder § 336 StGB i. V. m. § 54 Abs. 2 StGB mit der nach den Grenzen des § 56 StGB zu beurteilenden Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung als das konkret mildere Recht anzuwenden ist.