Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Beschluss vom 25. 2. 1998 – 1 BvR 299/89 (lexetius.com/1998,549)

[1] In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn R … – Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Jörg Lang, Hohenzollernstraße 1, Stuttgart – gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 30. Januar 1989 – 5 Ss 702/88 –, b) das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 7. Oktober 1988 – 35 Ns 416/88 – hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Seidl und die Richter Grimm, Hömig am 25. Februar 1998 einstimmig beschlossen:
[2] Das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 7. Oktober 1988 – 35 Ns 416/88 – und der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 30. Januar 1989 – 5 Ss 702/88 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
[3] Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
[4] Gründe: Der Beschwerdeführer wendet sich gegen strafgerichtliche Entscheidungen, mit denen er wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten verurteilt worden ist.
[5] I. 1. Der Beschwerdeführer ist für ein Flugblatt zur Volkszählung 1987 presserechtlich verantwortlich. Das Flugblatt enthält auf der vierten Seite unter der Überschrift "Was tun?" unter anderem die Ausführung: "Um die Beteiligung beim Volkszählungsboykott zu verdeutlichen, werden wir Sammelstellen einrichten, bei denen die Bögen anonymisiert (Heft-Nummer herausschneiden) abgegeben werden können."
[6] Mit Urteil des Amtsgerichts wurde der Beschwerdeführer wegen öffentlicher Aufforderung zur Begehung von Ordnungswidrigkeiten zu einer Geldbuße verurteilt. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Beschwerdeführer wegen öffentlicher Aufforderung zu einer Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe verurteilt.
[7] Das Abschneiden der Heft-Nummer von den Volkszählungsbögen sei eine Sachbeschädigung im Sinne des § 303 Abs. 1 StGB. Zu dieser Sachbeschädigung habe der Beschwerdeführer öffentlich aufgefordert. Zwar werde das Wort "Aufforderung" nicht direkt verwendet. Eine Würdigung des gesamten Flugblattes ergebe jedoch, daß dieses nicht nur Verhaltensmöglichkeiten aufzeige oder befürworte.
[8] Der Beschwerdeführer habe die Aufforderungen zwar nicht als Aufforderung zu einer Straftat angesehen. Dieser Verbotsirrtum sei aber, selbst wenn zum Zeitpunkt des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Vorgangs kein entsprechendes Ermittlungsverfahren öffentlich bekannt gewesen sei, vermeidbar gewesen. Der Beschwerdeführer hätte bei der zuständigen Staatsanwaltschaft rückfragen können und dann von dem als Zeugen gehörten Bearbeiter der einschlägigen Ermittlungsverfahren die Auskunft erhalten, daß die Aufforderung zum Abschneiden der Heft-Nummern eine Aufforderung zur Begehung einer Straftat darstelle.
[9] Mit dem angegriffenen Beschluß hat das Oberlandesgericht die Revision als unbegründet verworfen.
[10] 2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, durch das Urteil des Landgerichts und den Beschluß des Oberlandesgerichts in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt zu sein.
[11] Die Entscheidung des Landgerichts berücksichtige nicht, daß das Flugblatt unter dem Schutz der Pressefreiheit stehe und § 111 StGB im Lichte derer Bedeutung auszulegen und anzuwenden sei. Bei der Beurteilung, ob mit einem Presseerzeugnis zu einer Straftat "aufgefordert" werde, sei dessen Gesamtinhalt und -intention zu ergründen. Im Flugblatt habe eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten für die Volkszählung im Vordergrund gestanden. Die beanstandete Äußerung sei lediglich nachrangig im Zusammenhang mit praktischen Vorschlägen für diejenigen aufgetaucht, die sich zur Nichtteilnahme an der Volkszählung entschlossen hätten.
[12] Indem das Landgericht zwar einerseits von einem Verbotsirrtum ausgegangen sei, diesen Irrtum aber andererseits mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Erkundigung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft für vermeidbar gehalten habe, überspanne es die Sorgfalts- und Erkundigungspflichten, die den Herausgeber oder Verfasser eines Flugblatts im Hinblick auf das Erkennen einer möglichen Strafbarkeit träfen. Das Gericht habe zunächst berücksichtigen müssen, daß kein Anlaß bestanden habe, an eine Strafwürdigkeit der in Frage stehenden Formulierung zu denken, weil entsprechende strafrechtliche Ahndungen bis dahin noch nicht aufgetreten seien. Die in dem Flugblatt verwendete Formulierung sei nicht neu gewesen, sondern über Monate hinweg durch bedeutendere Presseerzeugnisse verbreitet worden, ohne daß die Straforgane sie beanstandet hätten. Eine Verzögerung der Herstellung und Verteilung des Flugblattes hätte zu einem Verlust an Aktualität und Einfluß geführt.
[13] Die Ansicht des Landgerichts verletze außerdem das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG und den rechtsstaatlichen Grundsatz "keine Strafe ohne Schuld".
[14] 3. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat sich nicht geäußert.
[15] II. 1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil es zur Durchsetzung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
[16] Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93 c BVerfGG) liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
[17] a) Den Maßgaben der für die Beurteilung der beanstandeten Äußerung einschlägigen Meinungsäußerungsfreiheit (zur Abgrenzung gegen die Pressefreiheit vgl. BVerfGE 85, 1 [11 ff.]) halten die angegriffenen Entscheidungen allerdings stand. Das Landgericht hat im Rahmen der Auslegung des § 111 StGB Aufforderungen und das bloße Aufzeigen oder Befürworten von Verhaltensmöglichkeiten grundrechtsgerecht gegeneinander abgegrenzt. Den Sinngehalt der Äußerung hat es verfassungsrechtlich bedenkenfrei unter Berücksichtigung des Textzusammenhangs, in dem sie steht, ermittelt. Es hat auch hinreichend begründet, warum es sich für die zu einer Bestrafung führende Deutungsalternative entschieden hat.
[18] b) Die Entscheidungen verstoßen auch nicht gegen das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG. Das Landgericht ist nicht davon ausgegangen, daß den Beschwerdeführer grundsätzlich eine Pflicht zur vorherigen Erkundigung darüber treffe, ob seine Äußerung einen Straftatbestand erfüllt. Es hat mit Hinweis auf die Möglichkeit einer Erkundigung nur die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums verneint.
[19] c) Die Rüge, das Landgericht habe die Unvermeidbarkeit des von ihm festgestellten Verbotsirrtums nicht mit der Begründung verneinen dürfen, der Beschwerdeführer hätte im Falle einer Erkundigung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft die Auskunft erhalten, die beabsichtigte Äußerung sei strafbar, greift durch. Maßstab ist, da nicht die Anforderungen gerade der Meinungsäußerungs- oder Pressefreiheit berührt sind, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
[20] Nach dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden und grundrechtlich in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Schuldgrundsatz setzt Strafe Schuld voraus (BVerfGE 20, 323 [331]; 45, 187 [259 f.]; 90, 145 [173]; stRspr). Die Strafe ist nicht schon bei einem tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Verhalten gerechtfertigt, sondern erst dann, wenn die persönliche Verantwortlichkeit des Täters für die rechtswidrige Tat, also die Vorwerfbarkeit, hinzukommt. Andernfalls wäre sie eine mit dem Rechtsstaatsprinzip und mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat (BVerfGE 20, 323 [331]). Der Gesetzgeber hat deshalb – in verfassungsmäßiger Konkretisierung des Schuldgrundsatzes (vgl. BVerfGE 41, 121 [125 f.]) – in § 17 StGB vorgesehen, daß der Täter ohne Schuld handelt, wenn ihm bei Begehung der Tat die Einsicht fehlt, Unrecht zu tun, und wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Im Falle der Vermeidbarkeit kann die Strafe gemildert werden.
[21] Sofern die Unvermeidbarkeit des Irrtums mit dem Hinweis darauf, daß der Täter sich hinsichtlich der Rechtmäßigkeit seines Handelns vorher hätte erkundigen können, verneint wird, wird dem Täter nicht mehr vorgehalten, daß er trotz seiner Einsicht, Unrecht zu tun, in einer bestimmten Weise gehandelt hat. Ihm wird vielmehr vorgeworfen, daß er sich nicht hinreichend über die Rechtslage informiert hat. Dem steht das Schuldprinzip nicht entgegen, wenn er Anlaß hatte, die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zu prüfen, und es ihm möglich war, im Wege dieser Prüfung die Einsicht in die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu gewinnen (vgl. dazu etwa OLG Celle, NJW 1977, S. 1644 [1644 f.]; BayObLG, NJW 1989, S. 1744 [1744 f.]; OLG Köln, NJW 1996, S. 472 [473]; Neumann, in: AK-StGB, 1990, § 17 Rn. 50 ff.; Dreher/Tröndle, StGB, 48. Aufl., 1997, § 17 Rn. 7).
[22] Im Hinblick auf das – bestehen bleibende – Erfordernis der Vorwerfbarkeit (vgl. BVerfGE 41, 121 [125 f.]) wäre es mit dem Schuldgrundsatz des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG jedoch unvereinbar, eine Erkundigung bei einer bestimmten Stelle, die nach den im nachhinein getroffenen Feststellungen die Auskunft einer Strafbarkeit erteilt hätte, zu verlangen, ohne daß vom Gericht in einer mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben zu vereinbarenden Weise dargelegt wird, warum der Täter Anlaß gehabt haben oder verpflichtet gewesen sein soll, sich gerade dort zu erkundigen. Dementsprechend ist in Literatur und fachgerichtlicher Rechtsprechung einhellig anerkannt, daß den Erkundigungspflichten grundsätzlich Genüge getan wird, wenn der Täter sich bei einer sachkundigen und verläßlichen Person erkundigt, die die Gewähr für eine objektive Auskunftserteilung bietet (BGH, NStZ 1996, S. 236 [237 f.]; OLG Celle, a. a. O., S. 1644 f.; OLG Bremen, NStZ 1981, S. 265 [265 f.]; BayObLG, a. a. O., S. 1745; KG, NJW 1990, S. 782 [783]; Cramer, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl., 1997, § 17 Rn. 18; Dreher/Tröndle, a. a. O., § 17 Rn. 9). Dieser Grundsatz wird dadurch relativiert, daß der Täter sich weiter erkundigen muß, wenn er aufgrund besonderer Umstände Zweifel an der Verläßlichkeit der Auskunft haben muß (vgl. etwa OLG Bremen, a. a. O., S. 266; OLG Köln, a. a. O., S. 473). Kann eine Auskunftsperson im Einzelfall nicht konkretisiert werden, ist in abstrakt-normativer Bewertung unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zu entscheiden, welche Auskünfte eine verläßliche Person dem Täter hinsichtlich der Rechtswidrigkeit seiner Tat erteilt hätte bzw. hätte erteilen müssen (vgl. BayObLG, a. a. O., S. 1745).
[23] Die angegriffenen Entscheidungen halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung anhand des Maßstabs des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht stand. Das Landgericht hat die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums allein mit Hinweis darauf verneint, daß der Beschwerdeführer sich bei der zuständigen Staatsanwaltschaft hätte erkundigen können und von dem Bearbeiter der einschlägigen Ermittlungsverfahren die Auskunft erhalten hätte, sein Tun sei strafrechtswidrig. Inwiefern der Beschwerdeführer Anlaß gehabt haben oder verpflichtet gewesen sein soll, sich gerade dort zu erkundigen, wird vom Gericht weder dargelegt noch ist es sonst erkennbar. Das gilt um so mehr, als das Gericht zugleich festgestellt hat, daß zum Zeitpunkt des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Vorgangs kein Ermittlungsverfahren öffentlich bekannt gewesen ist.
[24] Die angegriffenen Entscheidungen beruhen darauf, daß sie den Einfluß und die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes verkannt haben. Es ist nicht auszuschließen, daß bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe eine für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung erfolgt.
[25] 2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
[26] Diese Entscheidung ist unanfechtbar.