Bundesverwaltungsgericht
Asyl; Flüchtlingsanerkennung; Qualifikationsrichtlinie; Verfolgungshandlung; Verfolgungsgrund; schwerwiegende Menschenrechtsverletzung; Religionsfreiheit; religiöses Existenzminimum; religiöse Betätigung im öffentlichen Bereich; physische Freiheit; Fluchtalternative bei Ausreise; selbstgeschaffener Nachfluchtgrund.
AsylVfG § 28 Abs. 1a; AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 16a; EMRK Art. 3, Art. 9, Art. 15; Richtlinie 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3, Art. 9, Art. 10
1. Auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG führt nicht jede Einschränkung der Religionsfreiheit zu einer Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts. Ob eine Maßnahme an die Religion als Verfolgungsgrund anknüpft, ergibt sich aus Art. 10 der Richtlinie; Art. 9 der Richtlinie ist dagegen zu entnehmen, welches Rechtsgut in welchem Ausmaß geschützt ist.
2. Ein Eingriff in den Kernbereich der Religionsfreiheit stellt eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar. Ob und unter welchen Voraussetzungen hierunter auch religiöse Betätigungen in der Öffentlichkeit fallen, stellt eine gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage dar, die letztlich vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu klären ist.
BVerwG, Urteil vom 5. 3. 2009 – 10 C 51.07; VGH Kassel (lexetius.com/2009,1586)
[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 5. März 2009 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke für Recht erkannt:
[2] Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Juli 2007 wird aufgehoben.
[3] Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
[4] Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe:
[5] 1 I Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der Beklagten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
[6] 2 Die 1974 geborene Klägerin ist chinesische Staatsangehörige. Sie war in China als Lehrerin an einer staatlichen Schule tätig und schloss sich im März 1999 einer amtlich nicht registrierten und von den Behörden daher als illegal angesehenen evangelischen Haus- bzw. "Untergrundkirche" an. Sie nahm an Bibelstunden und Gottesdiensten teil. Die Treffen der Gemeindemitglieder wurden wiederholt von der Polizei beobachtet. Die Klägerin bekam deswegen Schwierigkeiten; so wurde sie im Oktober 1999 festgenommen und eine Nacht lang inhaftiert; im September 2000 verlor sie ihre Anstellung als Lehrerin. Sie wechselte Wohnort und Arbeitsstelle, mied jeden Kontakt mit einer Kirche und flog im Februar 2001 mit Pass- und Besuchsvisum von Shanghai aus nach Deutschland. Hier beantragte sie Asyl. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – (Bundesamt) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15. Januar 2002 ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG vorliegen und drohte der Klägerin die Abschiebung nach China an. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen.
[7] 3 Im Berufungsverfahren hat die Klägerin vorgetragen, dass sie sich in Deutschland erneut einer evangelischen (chinesischen) Glaubensgemeinschaft angeschlossen habe. Im Januar 2006 habe sie gemeinsam mit sieben anderen chinesischen Staatsangehörigen in Frankfurt eine Untergliederung einer weltweit, insbesondere in den USA agierenden christlichen Glaubensgemeinschaft gegründet. Die Gründung sei durch einen Internetauftritt publik gemacht worden, der – mit Namen und Foto – auch auf sie verweise. Sie arbeite in dieser Kirche aktiv mit.
[8] 4 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 12. Juli 2007 der Klage stattgegeben. Er hat die Frage, ob die Klägerin vorverfolgt aus China ausgereist sei, als "sehr zweifelhaft" bezeichnet, sie letztlich aber dahinstehen lassen. Die geltend gemachten Vorfluchtgründe seien im Kern glaubhaft. Die behördlichen Maßnahmen dürften trotz ihrer Strenge nicht von genügender Intensität gewesen sein. Außerdem dürfte die Klägerin an ihrem neuen Wohnort in China über eine inländische Fluchtalternative verfügt haben. Allerdings sei sie durch ihre religiösen Nachfluchtaktivitäten so massiv gefährdet, dass sie als Asylberechtigte und Flüchtling anzuerkennen sei. Es sei mit beachtlichter Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass sie im Fall einer Rückkehr nach China dort wegen ihrer Auslandsaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere wegen ihrer Mitwirkung an der Gründung und dem Aufbau der Kirchengemeinde in Frankfurt als mittlerweile führendes Mitglied einer chinesischen Untergrundkirche erkannt und verfolgt würde. Sie müsse damit rechnen, dass ihr ein Verstoß gegen § 300 des chinesischen Strafgesetzbuches angelastet und sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werde. Da es die von ihr mitbegründete Kirche geradezu darauf anlege, durch ihren Internetauftritt offizielle chinesische Stellen zu provozieren und auf sich aufmerksam zu machen, sei mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass über die chinesische Auslandsaufklärung die maßgebenden chinesischen Stellen bereits Kenntnis hiervon hätten oder noch erlangen würden. Die Wahrscheinlichkeit harter Sanktionen sei bei der Klägerin besonders groß, weil sie schon vor ihrer Ausreise aus China für die dortigen Behörden in religiöser Hinsicht kein "unbeschriebenes Blatt" gewesen sei, sondern als Mitglied einer verbotenen Hauskirche aufgefallen sei.
[9] 5 Mit ihren vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revisionen machen die Beklagte und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten im Wesentlichen geltend, das Berufungsgericht habe sich seine Überzeugung hinsichtlich der Gefährdung der Klägerin wegen deren Nachfluchtaktivitäten auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage gebildet.
[10] 6 II Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten sind begründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht auf unzureichenden tatsächlichen Feststellungen und verletzt damit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat wegen der unzureichenden Tatsachenfeststellungen nicht abschließend in der Sache entscheiden kann, ist das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
[11] 7 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die von der Klägerin begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG, § 60 Abs. 1 AufenthG (dazu unter 2.), der Asylanspruch gemäß Art. 16a GG (dazu unter 3.), sowie die hilfsweise erstrebte Feststellung von Abschiebungsverboten. Im Revisionsverfahren sind Rechtsänderungen, die sich nach Erlass der Berufungsentscheidung ergeben haben, für das Revisionsgericht beachtlich, wenn das Berufungsgericht – entschiede es nunmehr anstelle des Revisionsgerichts – die Änderungen beachten müsste (stRspr; vgl. etwa Urteil vom 1. November 2005 BVerwG 1 C 21.04 Buchholz 402. 25 § 73 AsylVfG Nr. 15). Das Berufungsgericht hätte nunmehr gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die inzwischen geltende Rechtslage abzustellen. Deshalb ist hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG, § 60 Abs. 1 AufenthG sowie § 28 Abs. 1a AsylVfG in der Fassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) anzuwenden, mit dem u. a. Art. 9 und 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; ABl EG Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 25, sog. Qualifikationsrichtlinie umgesetzt worden sind (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
[12] 8 2. Das Berufungsgericht ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin als Flüchtling anzuerkennen ist, wenn ihr wegen ihrer religiösen Betätigung in Deutschland bei einer Rückkehr nach China Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG droht. Sowohl § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als auch Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie führen in Anlehnung an Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention die Religion als beachtlichen Verfolgungsgrund und damit als Anknüpfungsmerkmal für Verfolgungsmaßnahmen an. Soweit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie klarstellt, dass der Begriff der Religion die Teilnahme an religiösen Riten nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind, umfasst, ist damit – entgegen verbreiteter Ansicht in Rechtsprechung und Literatur – nicht ohne Weiteres eine Erweiterung des Flüchtlingsschutzes verbunden. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definiert, was unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein. Auch nach bisheriger Rechtsprechung war die religiöse Betätigung als Verfolgungsgrund nicht auf den Bereich des sog. religiösen Existenzminimums, also die Glaubensbetätigung im privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich beschränkt. Geht es – wie hier nach dem bisherigen Vorbringen der Klägerin – darum, ob wegen einer bereits getätigten Glaubensausübung Verfolgung droht, war auch bisher die Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung nicht auf den privaten Bereich beschränkt, wenn die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit bestand (vgl. etwa Urteil des 9. Senats vom 13. Mai 1993 BVerwG 9 C 49.92 BVerwGE 92, 278 [280 f.] = Buchholz 402. 25 § 1 AsylVfG Nr. 161).
[13] 9 Ob ein Ausländer als Flüchtling anzuerkennen ist, ist maßgeblich nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu beurteilen (Buchst. b ist im Entscheidungsfall ohne Bedeutung). Danach gelten als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten EMRK keine Abweichung zulässig ist. Die Gewährung von Flüchtlingsschutz setzt daher eine Verfolgungshandlung voraus, die – anknüpfend an die in Art. 10 der Richtlinie genannten Verfolgungsgründe – ein grundlegendes Menschenrecht in schwerwiegender Weise verletzt. Nicht Art. 10, sondern Art. 9 der Richtlinie bestimmt damit letztlich den maßgeblichen Schutzbereich für die Flüchtlingsanerkennung. Denn Art. 9 ist zu entnehmen, welches Rechtsgut in welchem Ausmaß geschützt ist.
[14] 10 a) Bei der Prüfung, ob eine Handlung eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie darstellt, bedarf es zunächst der Feststellung, in welches Menschenrecht eingegriffen wird. Bei der Anknüpfung an eine religiöse Betätigung macht es – wie bisher – einen bedeutsamen Unterschied, ob es sich um die Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit handelt oder um einen Eingriff in die Religionsfreiheit, weil dem Gläubigen eine Einschränkung oder Unterlassung seines Glaubens abverlangt wird.
[15] 11 Bei einem Eingriff in das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit ist nach bisheriger Rechtsprechung uneingeschränkt von einer beachtlichen Verfolgung auszugehen, wenn der Eingriff erheblich ist und an asylerhebliche Merkmale anknüpft (vgl. etwa Urteil vom 25. Oktober 1988 BVerwG 9 C 37.88 BVerwGE 80, 321 [324]). Hieran hat Art. 9 der Richtlinie nichts geändert. Nach Abs. 1 Buchst. a der Vorschrift zählen zu den grundlegenden Menschenrechten, bei denen eine schwerwiegende Verletzung stets zur Annahme einer Verfolgung führt, insbesondere die Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 EMRK auch im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes keine Abweichung zulässig ist. Zu diesen notstandsfesten Rechten gehören das Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK (außer bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen), das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung nach Art. 3 EMRK, das Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft nach Art. 4 Abs. 1 EMRK sowie das Verbot einer Verurteilung ohne gesetzliche Grundlage nach Art. 7 EMRK. Bei einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit ist ohne Weiteres von einer beachtlichen Verfolgung auszugehen, sofern der Eingriff von Art. 3 EMRK erfasst wird. In jedem Falle stellt das Recht auf körperliche Unversehrtheit bzw. physische Freiheit ein grundlegendes Menschenrecht dar. Wird ein Eingriff in dieses Recht nicht von Art. 3 EMRK erfasst, ist eine Verfolgung anzunehmen, wenn die Verletzung des Rechts schwerwiegend im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie ist. Denn die Bezugnahme in dieser Vorschrift auf die in Art. 15 Abs. 2 EMRK aufgeführten Rechte ist nicht abschließend, wie der Formulierung "insbesondere" in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu entnehmen ist.
[16] 12 Das Berufungsgericht hat angenommen, die Klägerin laufe wegen ihrer religiösen Betätigung in Deutschland Gefahr, in China zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt zu werden. Dies wäre in der Tat – bei einer tragfähigen Gefährdungsprognose – eine schwerwiegende Verletzung des in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie geschützten Rechts auf physische Freiheit (dazu sogleich unter c)).
[17] 13 b) Geht es im Zusammenhang mit einer religiösen Betätigung nicht um einen Eingriff in das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit, ist zu prüfen, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit vorliegt, der eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellt. Die Religionsfreiheit gehört nicht zu den gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfesten Rechten; auch bei ihr handelt es sich jedoch um eines der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie – über die notstandsfesten Rechte hinaus – geschützten grundlegenden Menschenrechte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Rechtsprechung wiederholt die grundlegende Bedeutung der Religionsfreiheit für die demokratische Gesellschaft betont (vgl. etwa Urteil vom 5. April 2007 – 18147/02 – Scientology/Russland, NJW 2008, 495 f.). Dass der Religionsfreiheit eine zentrale Bedeutung bei den Menschenrechten zukommt, wird auch an dem vielfältigen Schutz dieses Rechts auf nationaler, gemeinschaftsrechtlicher und internationaler Ebene deutlich (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 9 EMRK, Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966). Der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ist bei seiner Rechtsprechung zum Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (jetzt: § 60 Abs. 5 AufenthG) ebenfalls davon ausgegangen, dass die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK zu den von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannten Menschenrechtsgarantien zählt (vgl. etwa Urteil vom 24. Mai 2000 BVerwG 9 C 34.99 BVerwGE 111, 223 [229 f.]; vgl. ferner Urteil vom 20. Januar 2004 BVerwG 1 C 9.03 BVerwGE 120, 16 [24]).
[18] 14 Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt in jedem Falle dann vor, wenn der Gläubige so schwerwiegend an der Ausübung seines Glaubens gehindert wird, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Kernbereich verletzt wird. Der Kern der Religionsfreiheit ist für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar und gehört damit zum menschenrechtlichen Mindeststandard. Er ist nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar (zu den Einzelheiten vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 – BVerfG 2 BvR 478/86, 2 BvR 962/86 – BVerfGE 76, 143 [158 ff.] sowie BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 BVerwG 1 C 9.03 BVerwGE 120, 16 [19 ff.]; jeweils mit weiteren Nachweisen). Wird dieser Kernbereich verletzt, ist in jedem Falle eine schwerwiegende Rechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren. Ob hierunter – wie beim Asylanspruch nach Art. 16a GG nur das sog. religiöse Existenzminimum fällt, also die Glaubensbetätigung im privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, oder ob und unter welchen Voraussetzungen beim Flüchtlingsschutz unter Geltung der Richtlinie auch religiöse Betätigungen in der Öffentlichkeit erfasst werden, stellt eine gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage dar, die letztlich vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften – EuGH – zu klären ist. Anlässlich des Entscheidungsfalles ist dieser Frage im Revisionsverfahren nicht weiter nachzugehen und kommt eine Vorlage an den EuGH nicht in Betracht. Denn das Berufungsgericht hat – auch im Hinblick auf eine etwaige künftige religiöse Betätigung der Klägerin in China – keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine mögliche Verletzung der Religionsfreiheit der Klägerin untersucht werden kann.
[19] 15 c) Hinsichtlich eines Eingriffs in Leib, Leben oder körperliche Unversehrtheit hat das Berufungsgericht zunächst zu Recht angenommen, dass ein beachtlicher subjektiver Nachfluchttatbestand gegeben ist, wenn der Klägerin in China wegen ihrer religiösen Betätigung in Deutschland eine mehrjährige Freiheitsstrafe oder eine vergleichbar schwerwiegende Einschränkung ihrer physischen Freiheit droht. Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren – wie hier – ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe nicht begrenzt (vgl. § 28 Abs. 1a AsylVfG und Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie; dazu bereits Urteil vom 18. Dezember 2008 BVerwG 10 C 27.07 UA S. 8 juris Rn. 14). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin im Übrigen ihren Glauben schon im Herkunftsland ausgeübt und ist dadurch den dortigen Behörden als Mitglied einer verbotenen Hauskirche aufgefallen (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. d i. V. m. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie).
[20] 16 Mit Bundesrecht nicht vereinbar sind dagegen die Ausführungen des Berufungsgerichts dazu, dass die Klägerin wegen ihrer religiösen Nachfluchtaktivitäten mit einer Verhaftung und Bestrafung, insbesondere einer Verurteilung nach § 300 des chinesischen Strafgesetzbuches rechnen muss (UA S. 21 ff.). Diese Ausführungen beruhen – wie von den Revisionen zu Recht geltend gemacht – auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage und genügen deshalb nicht den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Darin liegt eine Verletzung materiellen Rechts. Was die mögliche strafgerichtliche Verurteilung betrifft, stützt das Berufungsgericht seine Gefährdungsprognose hauptsächlich auf den Wortlaut der Strafvorschrift, die eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren vorsieht, und der dadurch eröffneten "Möglichkeit, nahezu jede nicht offiziell registrierte und damit akzeptierte religiöse Betätigung mit strafrechtlichen Sanktionen zu überziehen" (UA S. 24). Darauf, wie die Strafvorschrift in China konkret gehandhabt wird, geht das Berufungsgericht nicht hinreichend ein (zum Erfordernis, nicht lediglich die abstrakte Rechtslage, sondern vor allem die konkrete Rechtspraxis des Verfolgerstaates zu ermitteln, vgl. etwa Beschluss vom 10. Dezember 2004 BVerwG 1 B 12.04 Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 67 m. w. N.). Bei der Frage staatlicher Sanktionen gegen christliche Untergrundkirchen und deren Mitglieder spricht das Berufungsgericht im Übrigen von "regionalen Unterschieden", ohne dem näher nachzugehen und auszuführen, wie sich diese Unterschiede – auf die Klägerin bezogen – auswirken (UA S. 23). Das Berufungsgericht führt aus, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach China wegen ihrer Mitwirkung an der Gründung und dem Aufbau der Kirchengemeinde in Frankfurt als mittlerweile führendes Mitglied einer "chinesischen Untergrundkirche" erkannt und verfolgt werden würde (UA S. 21), ohne deutlich zu machen, inwiefern sich Maßnahmen der chinesischen Behörden gegen Haus- bzw. Untergrundkirchen und deren Mitglieder in China in gleicher Weise gegen religiöse Betätigungen im Ausland richten. Das Berufungsgericht trifft ferner keine Feststellungen dazu, ob und in welcher Weise sich chinesische Behörden Kenntnis über derartige Aktivitäten im Ausland verschaffen. Der Hinweis auf die offizielle Aufgabenstellung des Amtes für Religiöse Angelegenheiten reicht hierfür nicht aus (UA S. 25). Danach fehlt es an tragfähigen Feststellungen dazu, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach China wegen ihrer religiösen Betätigung in Deutschland tatsächlich mit einer Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe oder einer ähnlich belastenden Sanktion – etwa der Inhaftierung in einem Umerziehungslager (vgl. UA S. 22 und 23) – rechnen muss. Da sich die Berufungsentscheidung insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO), ist der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
[21] 17 d) Sollte sich bei der erneuten Prüfung ergeben, dass der Klägerin wegen ihrer religiösen Nachfluchtaktivitäten keine flüchtlingsrechtlich beachtlichen Gefahren drohen, wird sich das Berufungsgericht nochmals mit der Frage der Vorverfolgung zu befassen haben. Das Berufungsgericht hat eine Vorverfolgung der Klägerin als "sehr zweifelhaft" bezeichnet (UA S. 10), jedoch nicht im Einzelnen festgestellt, ob das religiöse Existenzminimum der Klägerin in China tatsächlich gewährleistet war. Wurde die Klägerin bereits vor ihrer Ausreise verfolgt oder drohte ihr unmittelbar eine Verfolgung, kommt es im Übrigen für die Annahme einer Vorverfolgung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie auf das Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative im Zeitpunkt der Ausreise nicht an (vgl. Senatsurteil vom 19. Januar 2009 BVerwG 10 C 52.07 zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen).
[22] 18 Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommen, dass die Klägerin sich weder auf beachtliche Vorfluchtgründe noch auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen kann, wird es weiter zu klären haben, inwieweit die Klägerin sich künftig in China religiös betätigen wird und ob dies gegebenenfalls im Hinblick auf Art. 9 und 10 der Richtlinie eine Flüchtlingsanerkennung gebietet. Sollte es danach auf die oben beschriebene gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage ankommen, müsste das Berufungsgericht die Revision gegen seine Entscheidung zulassen, um dem Bundesverwaltungsgericht die Vorlage dieser Frage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu ermöglichen.
[23] 19 3. Ob das Berufungsgericht die Klägerin zu Recht als Asylberechtigte gemäß Art. 16a GG anerkannt hat, lässt sich ebenfalls nicht abschließend beurteilen.
[24] 20 Das Berufungsgericht ist auch in diesem Zusammenhang zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin asylberechtigt ist, wenn ihr wegen ihrer religiösen Betätigung in Deutschland politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG droht. Dem steht nicht entgegen, dass diese Gefahr auf Umständen beruht, die die Klägerin nach Verlassen ihres Herkunftslands aus eigenem Entschluss geschaffen hat. Denn dieser Entschluss entspricht aufgrund ihres schon in China gezeigten Verhaltens ersichtlich einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung (vgl. § 28 Abs. 1 AsylVfG). Verfehlt ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, die Richtlinie habe hinsichtlich der religiösen Betätigung nicht nur den Anwendungsbereich der Flüchtlingsanerkennung, sondern auch den Schutzbereich des Asylgrundrechts erweitert (UA S. 25 f.). Abgesehen davon, dass es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in erster Linie um einen Eingriff nicht in die Religionsfreiheit, sondern die physische Freiheit der Klägerin geht, hat der Senat bereits entschieden, es bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass durch § 60 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 11 AufenthG der Schutzbereich des Asylrechts auf einfach gesetzlicher Grundlage ausgeweitet werden sollte (Urteil vom 29. Mai 2008 BVerwG 10 C 11.07 BVerwGE 131, 186 [190 f.] = Buchholz 451.902 Europäisches Ausländer- und Asylrecht Nr. 21; ebenso VGH Mannheim, Urteil vom 20. November 2007 – A 10 S 70/06 – InfAuslR 2008, 97; vgl. auch BTDrucks 16/5065 S. 153). Eine Erweiterung des Asylgrundrechts ergibt sich auch nicht im Hinblick auf Art. 3 der Richtlinie. Die Regelung betrifft die Konstellation, dass die Mitgliedsstaaten über die Flüchtlingsanerkennung nach der Richtlinie bzw. der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus günstigere Normen vorsehen und damit das grundlegende Ziel der Richtlinie, die Asylpolitik zu vereinheitlichen und zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem zu gelangen, möglicherweise unterlaufen (dazu Vorlagebeschluss des Senats vom 14. Oktober 2008 BVerwG 10 C 48.07 zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Bei der hier gegebenen Fallkonstellation kommt allenfalls in Betracht, dass der Anspruch auf Asyl nach nationalem Verfassungsrecht hinter dem Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung nach der Richtlinie zurückbleibt.
[25] 21 Das Berufungsgericht hat seine Gefährdungsprognose allerdings auch insoweit auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage getroffen. Es gilt auch in diesem Zusammenhang das, was oben unter 2. c) zur Flüchtlingsanerkennung der Klägerin ausgeführt worden ist. Die Sache ist daher insoweit ebenfalls nicht entscheidungsreif und muss an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit dort die erforderlichen Feststellungen zur Gefährdungsprognose nachgeholt werden.
[26] 22 4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.