Bundesverwaltungsgericht
Verwaltungsvertrag; Schriftform; Jugendstrafrecht; Strafvollstreckung; Maßregeln der Sicherung und Besserung; Kosten des Maßregelvollzuges; Maßregelvollzug; Amtshilfe; Rechtshilfe; Vollstreckungshilfe; Kostenerstattung.
GVG § 164
Bei Verwaltungsvereinbarungen zwischen Ländern ist dem Schriftformerfordernis des § 57 VwVfG durch einen Briefwechsel genügt, wenn die Zusammengehörigkeit der beiderseitigen Erklärungen aus den Umständen zweifelsfrei ersichtlich ist. Es ist nicht darüber hinaus erforderlich, dass beide Vertragserklärungen in derselben Urkunde enthalten sind.
Zur Reichweite von § 164 GVG beim Maßregelvollzug im Jugendstrafrecht.

BVerwG, Urteil vom 19. 5. 2005 – 3 A 3.04 (lexetius.com/2005,1707)

[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. Mai 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Driehaus sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, – Dr. Dette, Liebler und – Prof. Dr. Rennert für Recht erkannt:
[2] Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 285 522,01 € nebst jährlichen Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 259 501,43 € und in Höhe von 4 % aus 26 020,58 € seit 1. September 2004 zu bezahlen.
[3] Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
[4] Gründe: 1. Der Vertrag ist wirksam.
[5] Ein Vertragsformverbot besteht nicht. Dass der Vertrag durch die jeweils zuständigen Stellen geschlossen wurde, wird von den Beteiligten nicht bezweifelt.
[6] Das Schriftformerfordernis des § 57 VwVfG ist gewahrt. Allerdings befinden sich die beiderseitigen Erklärungen nicht auf derselben Urkunde (vgl. § 62 VwVfG i. V. m. § 126 Abs. 2 BGB). Das ist im vorliegenden Fall aber auch nicht erforderlich. Formvorschriften sind kein Selbstzweck und deshalb unter Berücksichtigung ihres Sinngehalts auszulegen und anzuwenden (Urteil vom 24. August 1994 BVerwG 11 C 14.93 BVerwGE 96, 326). Der Sinngehalt des § 57 VwVfG liegt in der Warn- und Beweisfunktion der Schriftform. Dem ist hier dadurch genügt, dass die beiderseitigen Verpflichtungen im Schreiben des Klägers an den Beklagten niedergelegt sind und der Beklagte in seinem Antwortschreiben zustimmend die eigene Verpflichtung bestätigt. Jedenfalls bei Verwaltungsvereinbarungen zwischen Ländern ist nicht da ¬ rüber hinaus erforderlich, dass beide Vertragserklärungen – namentlich die beiden Unterschriften – in ein und derselben Urkunde enthalten sind; ein Briefwechsel genügt, wenn die Zusammengehörigkeit der beiderseitigen Erklärungen aus den Umständen zweifelsfrei ersichtlich ist.
[7] Der Vertrag ist auch nicht nichtig. Ob eine Regelung, die durch einen verwaltungsrechtlichen Vertrag getroffen wird, an einem zur Nichtigkeit führenden Mangel leidet, entscheidet zum einen das allgemeine Vertragsrecht und zum anderen das jeweils einschlägige Fachrecht. Dabei ist der differenzierenden Regelung in § 59 VwVfG zu entnehmen, dass nicht jeder Rechtsverstoß, sondern nur qualifizierte Fälle der Rechtswidrigkeit zur Nichtigkeit führen sollen. Da die in § 59 Abs. 2 VwVfG aufgeführten Tatbestände bei koordinationsrechtlichen Verträgen ohne weiteres ausscheiden, kommt als Nichtigkeitsgrund allein ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot nach § 59 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 134 BGB in Betracht (stRspr; vgl. Urteile vom 23. August 1991 BVerwG 8 C 61.90 BVerwGE 89, 7 und vom 3. März 1995 BVerwG 8 C 32.93 BVerwGE 98, 58). Ein solches Verbot ist indes nicht ersichtlich.
[8] Namentlich lässt es sich nicht § 164 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) entnehmen. Hiernach werden Kosten der Rechtshilfe von der ersuchenden Behörde nicht erstattet. Es mag dahinstehen, ob diese Vorschrift der ersuchenden Behörde schlechthin verbietet, die Kosten der Rechtshilfe gleichwohl zu erstatten oder sich hierzu zu verpflichten. Ein derartiges unbedingtes Verbot könnte allenfalls innerhalb des zweifelsfreien Anwendungsbereichs der Vorschrift angenommen werden. Soweit ihre Anwendbarkeit hingegen mit guten Gründen bezweifelt wird, kann die Befugnis der beteiligten Länder, diese Zweifel im Wege einer Vereinbarung auszuräumen, nicht bestritten werden. Von dieser Befugnis geht das Gesetz selbst aus, wenn es eine Behörde sogar in subordinationsrechtlichen Rechtsverhältnissen zum Abschluss von Vergleichsverträgen ermächtigt, die ebenfalls der Beseitigung von Ungewissheiten über die bestehende Rechtslage dienen (§ 55 VwVfG).
[9] Wer die Kosten der Jugendmaßregelvollstreckung zu tragen hat, wenn der Jugendliche (oder Heranwachsende) in die Einrichtung eines anderen Landes eingewiesen wird, ist durchaus zweifelhaft. In der Literatur wird schon gefragt, ob überhaupt ein Fall der Rechtshilfe im Sinne der §§ 156 ff. GVG gegeben ist oder ob aus der besonderen Zuständigkeitsregelung der §§ 84, 85 JGG ein Grundsatz der bundesweiten Direktvollstreckung herzuleiten ist, welcher die Inanspruchnahme von Vollstreckungshilfe insoweit erübrigt (Pohlmann, StVollstrO, 4. Aufl. 1967, Anm. I. 1. c zu § 9; Wolf in Pohlmann/Jabel/Wolf, StVollstrO, 7. Aufl. 1996, Rn. 4 zu § 9). Für die Anwendung von § 164 GVG wäre dann kein Raum (vgl. Urteil vom 24. April 1991 BVerwG 7 A 7.90 Buchholz 300 § 164 GVG Nr. 1 = NStZ 1991, 557 = RPfleger 1991, 473). Daran schließt sich die weitere Frage an, ob §§ 84, 85 JGG zusätzlich zu entnehmen ist, dass jedes Land bei der Unterbringung eines Jugendlichen, auch wenn er von dem Vollstreckungsleiter eines anderen Landes eingewiesen wurde, stets eine eigene Angelegenheit erfüllt, mit der Folge, dass eine Kostenerstattung von vornherein ausscheidet. Ob §§ 84, 85 JGG die zunächst bloße Zuständigkeitsvorschriften enthalten – derart weit reichende Konsequenzen beizulegen sind, kann freilich keineswegs als gesichert gelten. Die Verwaltungspraxis der Länder geht offenbar davon aus, dass bei der ländergrenzenübergreifenden Vollstreckung auch im Jugendstrafrecht eine Rechts- bzw. Amtshilfelage gegeben ist. So macht § 9 Abs. 1 StVollstrO keinen Vorbehalt für das Jugendstrafrecht (vgl. § 1 Abs. 3 StVollstrO), und die bereits erwähnte Ländervereinbarung vom 19. November 1964 sah den gegenseitigen Verzicht auf Erstattung von Kosten bei der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB ausweislich ihrer Begründung auch für die Strafvollstreckung nach dem Jugendgerichtsgesetz vor, was überflüssig gewesen wäre, bestünde insofern ohnehin keine Erstattungspflicht.
[10] Wird unterstellt, dass für die ländergrenzenübergreifende Maßregelvollstreckung im Jugendstrafrecht nichts anderes gilt als im Erwachsenenstrafrecht, so darf die Vollstreckungsbehörde (der Vollstreckungsleiter) die Einrichtung eines anderen Landes nicht direkt um Aufnahme des Verurteilten ersuchen, sondern muss die Vermittlung der Justizbehörden des Sitzlandes der Einrichtung in Anspruch nehmen (vgl. Urteil vom 24. April 1991 a. a. O.). Dies sagt § 9 Abs. 1 Satz 2 StVollstrO in der seit dem 1. April 2001 geltenden Fassung ausdrücklich (BAnz S. 9157, vgl. JMBl LSA S. 91) und war auch für die zuvor geltende Fassung allgemein anerkannt; die Ländervereinbarung zur Vereinfachung und Beschleunigung der Strafvollstreckung vom 8. Juni 1999 (vgl. JMBl LSA 2000 S. 4, SächsJMBl 2000 S. 28), die eine Direkteinweisung gestattet, gilt für die Maßregelvollstreckung ausdrücklich nicht (Ziff. III Abs. 2 Satz 2). Setzt die ländergrenzenübergreifende Maßregelvollstreckung mithin die Inanspruchnahme der Vollstreckungshilfe nach § 163 GVG voraus, so ist damit über die Frage der Kostenerstattung noch nicht entschieden. Zwar dürfte mit § 163 GVG auch § 164 Abs. 1 GVG dem Grunde nach anwendbar sein. Unklar ist indes, ob die "Kosten der Rechtshilfe" – über die Eigenkosten der Justizverwaltung des ersuchten Landes hinaus – auch die Kosten justizfremder Einrichtungen wie der Psychiatrischen Landeskrankenhäuser oder von Einrichtungen der Sozialhilfe umfassen (vgl. dazu Pohlmann, StVollstrO, 4. Aufl. 1967, Anm. II. 2. zu § 53 StVollstrO). Die Länder der "alten" Bundesrepublik hatten am 19. November 1964 die erwähnte Vereinbarung geschlossen, die dies bejahte; die Kosten einer Unterbringung nach den §§ 63, 64 StGB sollten vom Sitzland der Einrichtung getragen, vom Lande der Vollstreckungsbehörde nicht erstattet werden. Diese Vereinbarung ist jedoch zum 31. Dezember 1990 gekündigt worden, weil die neuen Länder ihr nicht beitreten wollten; Verhandlungen über eine Nachfolgeregelung hatten bislang keinen Erfolg. Auch die Ländervereinbarung vom 8. Juni 1999 betont noch einmal, dass der in ihr vorgesehene Erstattungsausschluss nicht für die Maßregelvollstreckung gilt, und zwar auch nicht, wenn damit eine Strafvollstreckung verbunden ist (Ziff. III. Abs. 2 Satz 2). Auch bei der Neufassung des § 9 Abs. 1 StVollstrO vom März 2001 wurde die Frage ausgeklammert. Die Vorschrift erklärt hinsichtlich der Anordnungen von Unterbringungen nach §§ 63, 64 oder 66 StGB nur §§ 162, 163 GVG für sinngemäß anwendbar, spart aber § 164 GVG gerade aus.
[11] Bei alldem lässt sich nicht feststellen, dass § 164 GVG einen Verwaltungsvertrag verböte, in dem sich das Land der Vollstreckungsbehörde (Vollstreckungsleiters) zur Erstattung der Kosten verpflichtet, die infolge eines Ersuchens um Vollstreckungshilfe aus der erbetenen Aufnahme des Verurteilten in eine Maßregelvollzugseinrichtung des ersuchten Landes entstehen.
[12] 2. Der Beklagte hat den Vertrag nicht wirksam gekündigt.
[13] In seinem Schreiben vom 14. Mai 2001 lässt sich eine derartige Kündigung nicht sehen. Das Schreiben ist schon nicht an das zuständige Ministerium des Klägers gerichtet, sondern an die Vollzugseinrichtung. Es äußert zudem lediglich die Rechtsauffassung, dass eine Zahlungsverpflichtung nicht bestehe, erklärt aber nicht die Kündigung des Vertrages oder in sonstiger Weise den Willen, sich von der eingegangenen Verpflichtung zur Kostentragung einseitig zu lösen. Das Schreiben vom 13. Juli 2000, in dem diese Verpflichtung enthalten war, wird überhaupt nicht erwähnt.
[14] Eine Kündigung könnte frühestens in dem Schreiben vom 17. Oktober 2003 zu sehen sein, das an das zuständige Ministerium des Klägers gerichtet war und dort am 23. Oktober 2003 eingegangen ist. Die Kündigung wäre jedoch nicht wirksam. Ein Kündigungsgrund ist nicht ersichtlich. Namentlich ist nicht erkennbar, dass sich die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, seit Abschluss des Vertrages so wesentlich geändert hätten, dass dem Beklagten das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten wäre (§ 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Der Beklagte macht geltend, er sei die Kostentragungspflicht nur im Vorgriff auf eine erwartete Ländervereinbarung eingegangen, die eine derartige Erstattungspflicht vorsehen sollte, zu der es dann aber nicht gekommen sei. Damit dringt er schon deshalb nicht durch, weil diese Erwartung einseitig geblieben und nicht zur gemeinsamen Vertragsgrundlage erhoben worden ist. Namentlich enthält seine Kostenübernahmeerklärung keinen dahingehenden Vorbehalt.
[15] 3. Die Klage ist auch der Höhe nach begründet.
[16] Der Kläger hat den Umfang der zu erstattenden Kosten im Einzelnen dargelegt, ohne dass der Beklagte insoweit widersprochen hätte.
[17] Dem Kläger stehen aus § 291 BGB Prozesszinsen ab dem 1. September 2004 dem Zeitpunkt der Erhebung der Klage – zu, und zwar hinsichtlich des vor dem 1. Mai 2000 fällig gewordenen Teilanspruchs (26 020,58 €) in Höhe von 4 % (§ 288 BGB a. F.) und hinsichtlich des von diesem Zeitpunkt an fälligen Teilanspruchs (259 501,43 €) in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (§ 288 Abs. 2, § 247 BGB, Art. 229 – § 1 Abs. 1 Satz 3 EGBGB).
[18] Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 285 522,01 € festgesetzt.