Bundesarbeitsgericht
Betriebsbedingte Kündigung – Sozialauswahl – Herausnahme von "Leistungsträgern" aus der Sozialauswahl
Bei der Herausnahme von "Leistungsträgern" aus der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG in der vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung muß der Arbeitgeber das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers gegen das betriebliche Interesse an der Herausnahme des Leistungsträgers abwägen.

BAG, Urteil vom 12. 4. 2002 – 2 AZR 706/00 (lexetius.com/2002,1397)

[1] Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 30. Mai 2000 – 15 Sa 2396/98 – aufgehoben.
[2] Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Fulda vom 18. Juni 1998 – 2 Ca 83/98 – wird zurückgewiesen.
[3] Die Beklagte hat auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
[4] Tatbestand: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
[5] Der 1956 geborene Kläger ist verheiratet und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Er trat am 1. Dezember 1978 in die Dienste der Beklagten, die ein Unternehmen der Druckindustrie betreibt. Der Kläger war zuletzt als Offsetkopierer in der Vorstufe (Offsetvorbereitung) bei einer durchschnittlichen monatlichen Bruttovergütung von 4.000,00 DM tätig. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 100 Arbeitnehmer.
[6] Am 16. Februar 1998 schloß die Beklagte mit dem bei ihr gewählten Betriebsrat einen "Interessenausgleich und Sozialplan". Die darin enthaltene Namensliste weist insgesamt zwölf zu entlassende Mitarbeiter aus, darunter auch den Kläger.
[7] Die Beklagte hat von 13 Mitarbeitern der Offsetvorbereitung zehn Mitarbeiter als "Leistungsträger" angesehen und nicht in die Sozialauswahl einbezogen. Soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse lauten die dem Betriebsrat mitgeteilten Sozialdaten wie folgt: A. F., geboren 11. 5. 1971, Eintritt 1. 8. 1989, nicht verheiratet, Steuerklasse I. Ausbildung: Druckvorlagenherstellerin, Tätigkeit: Druckvorlagenherstellerin; R. H., geboren 1. 12. 1958, Eintritt 7. 10. 1985, nicht verheiratet, Steuerklasse I, Ausbildung: Schriftsetzer, Tätigkeit: Offsetmontierer; J. Ru., geboren 5. 9. 1963, Eintritt 9. 6. 1986, nicht verheiratet, Steuerklasse I, Ausbildung: Kraftfahrzeugmechaniker, Tätigkeit: Offsetmontierer; T. R., geboren: 21. 5. 1959, Eintritt 10. 6. 1985, verheiratet, Steuerklasse III/0, Ausbildung: Kraftfahrzeugschlosser, Tätigkeit: Offsetkopierer; K. P. (der Kläger), geboren: 10. 9. 1956, Eintritt 1. 12. 1978, verheiratet, Steuerklasse III/1, 5, Ausbildung: Radio-/Fernsehtechniker, Tätigkeit: Offsetkopierer.
[8] Alle genannten Mitarbeiter erhielten Vergütung nach der Lohngr. V des Lohnrahmentarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie vom 12. Juli 1971.
[9] Mit Schreiben vom 16. Februar 1998, das dem Kläger nach Abschluß von Interessenausgleich und Sozialplan ausgehändigt wurde, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. August 1998.
[10] Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er hat geltend gemacht, die Beklagte habe die Mitarbeiter F., H., Ru. und R. in die Sozialauswahl einbeziehen müssen. Aus dem Vorbringen der Beklagten ergebe sich nicht, daß die Weiterbeschäftigung dieser Mitarbeiter im berechtigten betrieblichen Interesse liege (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF). Ihre Herausnahme aus der Sozialauswahl sei nicht nur auf grobe Fehlerhaftigkeit (§ 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG aF) zu prüfen. Jedenfalls sei aber die Sozialauswahl grob fehlerhaft. Außerdem sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden.
[11] Der Kläger hat zuletzt beantragt festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 16. Februar 1998 aufgelöst wird.
[12] Die Beklagte hat um Klageabweisung gebeten. Die Weiterbeschäftigung der Mitarbeiter F., H., Ru. und R. habe im berechtigten betrieblichen Interesse gelegen. Frau F. und Herr H. seien druckspezifisch ausgebildet, während Herr Ru. an einem auslaufenden System arbeite, für das sich die Einarbeitung eines anderen Arbeitnehmers nicht lohne; Herr R. habe Sonderkenntnisse in der Plattenkopie sowie in Reinigung und Wartung. Selbst wenn man die Voraussetzungen eines "berechtigten betrieblichen Interesses" als nicht dargetan ansehe, so sei doch die Herausnahme dieser Mitarbeiter aus der Sozialauswahl jedenfalls nicht grob fehlerhaft iSd. § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG aF. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß gehört worden.
[13] Das Arbeitsgericht hat nach den Klageanträgen erkannt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht nach Beweisaufnahme das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
[14] Entscheidungsgründe: Die Revision ist begründet. Die Kündigung der Beklagten hat das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst.
[15] I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei schon auf Grund der auch vom Kläger nicht in Frage gestellten Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG aF durch dringende betriebliche Erfordernisse iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt. Die getroffene Sozialauswahl sei nicht zu beanstanden. Sie halte der Überprüfung am Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit gem. § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG aF stand. Dieser Maßstab sei nicht auf die Auswahlentscheidung im engeren Sinne beschränkt, sondern gelte schon für die Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises einschließlich der "Leistungsträgerregelung" des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF. Bei Anwendung dieses groben Rasters sei es nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte die Weiterbeschäftigung der Mitarbeiter F., H., Ru. und R. als im betrieblichen Interesse liegend angesehen habe. Ob im Rahmen der "Leistungsträgerregelung" betriebliche gegen soziale Interessen abgewogen werden müßten, könne offenbleiben, da es jedenfalls ausreiche, daß die Weiterbeschäftigung der "Leistungsträger" für den Arbeitgeber nachvollziehbar vorteilhaft sei. Der Betriebsrat sei, wie nach der Beweisaufnahme feststehe, ordnungsgemäß angehört worden.
[16] II. Dem folgt der Senat nur in Teilen der Begründung. Die Kündigung vom 16. Februar 1998 ist sozial ungerechtfertigt und daher unwirksam (§ 1 KSchG).
[17] 1. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht auf die am 16. Februar 1998 zugegangene Kündigung § 1 Abs. 3, 5 KSchG in der vom 1. Oktober 1996 bis 31. Dezember 1998 geltenden Fassung (im Folgenden: § 1 Abs. 3, 5 KSchG aF) angewandt. Ob eine Willenserklärung rechtsgestaltend wirkt, kann nur nach der bei ihrem Zugang (§ 130 BGB) bestehenden Rechtslage beurteilt werden (st. Rspr. des Senats vgl. nur 21. Februar 2001 – 2 AZR 39/00 – EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 8).
[18] 2. Ebenfalls zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß auf Grund § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG aF das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse iSd. § 1 Abs. 2 KSchG zu vermuten ist (vgl. BAG 7. Mai 1998 – 2 AZR 536/97BAGE 88, 363). Hiergegen wendet sich auch die Revision nicht.
[19] 3. Es erscheint aber bereits zweifelhaft, ob – wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat – die Beklagte ihrer gem. § 1 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 KSchG bestehenden Verpflichtung nachgekommen ist, auf Verlangen des Klägers im Prozeß die Gründe für die getroffene Auswahl mitzuteilen. Diese Verpflichtung des Arbeitgebers bezieht sich auch auf die Gründe für die Ausklammerung einzelner Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF (BAG 10. Februar 1999 – 2 AZR 716/98 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 40 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 38). Kommt der Arbeitgeber dem Verlangen des Arbeitnehmers nicht nach, ist die streitige Kündigung ohne weiteres als sozialwidrig anzusehen; auf den Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl kommt es dann nicht an. Ob die Beklagte diesen Anforderungen durch die mehr oder weniger pauschalen Hinweise auf die druckspezifische Ausbildung der Arbeitnehmer F. und H. sowie auf die Flexibilität des Herrn R. und die Versiertheit des Herrn Ru. Genüge getan hat, kann indes dahinstehen.
[20] 4. Die Kündigung ist gem. § 1 Abs. 3, 5 Satz 2 KSchG aF sozial ungerechtfertigt, weil die von der Beklagten vorgenommene Sozialauswahl grob fehlerhaft ist.
[21] a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit (§ 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG aF) beziehe sich auch auf die Gründe für die Ausklammerung einzelner Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF (so auch Löwisch RdA 1997, 80; Neef NZA 1997, 65; Schiefer NZA 1997, 915; Gaul AuA 1998, 168; KR-Etzel 5. Aufl. § 1 KSchG Rn. 746 mwN; wohl auch Giesen ZfA 1997, 145, 152 ff.; ablehnend Bader NZA 1996, 1125, 1127 ff.; Kohte BB 1998, 946, 950 ff.; Zwanziger ArbuR 1997, 427; U. Preis NJW 1996, 3369, 3370 ff.; wohl auch Fischermeier NZA 1998 Sonderheft Kündigung und Kündigungsschutz S 18, 20 f.). Der Senat hat diese Frage bisher offengelassen (7. Mai 1998 – 2 AZR 536/97BAGE 88, 363). Sie bedarf auch im Streitfall keiner Entscheidung.
[22] b) Die Ausklammerung jedenfalls der Arbeitnehmerin F. aus der Sozialauswahl ist nämlich entgegen der von der Revision gerügten Auffassung des Landesarbeitsgerichts grob fehlerhaft.
[23] aa) Bei der Frage, ob die soziale Auswahl grob fehlerhaft ist (§ 1 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 KSchG aF), handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur dahin überprüft werden kann, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachenrichter ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob die Entscheidung in sich widerspruchsfrei ist (st. Rspr. vgl. ua. BAG 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; 21. Februar 2001 – 2 AZR 39/00 – EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 8).
[24] bb) Diesem Prüfungsmaßstab wird die Würdigung des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht, weil es das betriebliche Interesse an der Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin F. nicht gegen die sozialen Belange des Klägers abgewogen hat. Das Landesarbeitsgericht hat zwar die Frage, ob im Rahmen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF eine derartige Abwägung erforderlich ist, nicht ausdrücklich verneint. Es hat aber als ausreichend angesehen, daß die Weiterbeschäftigung der "Leistungsträger" und damit auch der Frau F. für die Beklagte nachvollziehbar vorteilhaft sei. Es hat also allein das betriebliche Interesse für maßgeblich gehalten. Damit hat es § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF verletzt.
[25] (1) Nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF sind in die soziale Auswahl Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Indem der Gesetzgeber das bloße betriebliche Interesse nicht ausreichen läßt, sondern einschränkend fordert, das Interesse müsse "berechtigt" sein, gibt er zu erkennen, daß nach seiner Vorstellung auch ein vorhandenes betriebliches Interesse "unberechtigt" sein kann. Das setzt aber voraus, daß nach dem Gesetz gegenläufige Interessen denkbar und zu berücksichtigen sind, die einer Ausklammerung von Leistungsträgern aus der Sozialauswahl auch dann entgegenstehen können, wenn sie bei isolierter Betrachtung des betrieblichen Interesses gerechtfertigt wären. Bei diesen gegenläufigen Interessen kann es sich angesichts des Umstandes, daß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF eine Ausnahme vom Gebot der Sozialauswahl statuiert, nur um die Belange des sozial schwächeren Arbeitnehmers handeln. Die Interessen müssen berechtigt im Kontext mit der Sozialauswahl sein (U. Preis NZA 1997, 1073, 1084). Das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers ist im Rahmen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF gegen das betriebliche Interesse an der Herausnahme des "Leistungsträgers" abzuwägen: Je schwerer dabei das soziale Interesse wiegt, umso gewichtiger müssen die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein. Dies war für die bis zum 30. September 1996 geltende Fassung des § 1 Abs. 3 KSchG auch überwiegend anerkannt (vgl. nur KR-Etzel 4. Aufl. § 1 KSchG Rn. 595; Hueck/von Hoyningen-Huene KSchG 12. Aufl. § 1 Rn. 478; so jetzt auch wieder für die ab 1. Januar 2000 geltende Fassung KR-Etzel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 674; von Hoyningen-Huene/Linck KSchG 13. Aufl. § 1 Rn. 478; APS/Kiel § 1 KSchG Rn. 743 alle mwN). Die im Streitfall geltende Neufassung des § 1 Abs. 3 KSchG durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S 1476) hat hieran in der Sache nichts geändert (ebenso Kittner ArbuR 1997, 182, 187; Löwisch NZA 1996, 1009, 1011; U. Preis NZA 1997, 1073, 1084; Schwedes BB 1996 Beil. Nr. 17 S 2, 3; wohl auch Fischermeier NZA 1998 Sonderheft Kündigung und Kündigungsschutz S 18, 20 ff.).
[26] (2) Die Gegenmeinung (vgl. KR-Etzel 5. Aufl. § 1 KSchG Rn. 641; Bader NZA 1996, 1125, 1129; von Hoyningen-Huene/Linck DB 1997, 41; Stückmann AuA 1997, 5; siehe auch die Übersicht bei Fischermeier aaO) leitet ihre Auffassung im wesentlichen daraus ab, daß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF anordne, Leistungsträger seien in die soziale Auswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG aF "nicht einzubeziehen", weshalb sie vorab und außerhalb des eigentlichen Auswahlvorgangs zu bestimmen seien. Das überzeugt nicht. Selbst wenn die Herausnahme der Leistungsträger vorab zu geschehen hat, muß sie doch nach der eindeutigen Anordnung des Gesetzes im "berechtigten" betrieblichen Interesse liegen. Eben dies setzt, wie ausgeführt, aber eine Abwägung mit dem gegenläufigen sozialen Interesse voraus. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzessystematik. Die Gegenmeinung beachtet zu wenig, daß die Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten auch nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG aF die Regel, die Ausklammerung von Leistungsträgern nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF aber die Ausnahme bleiben sollte. Das gesetzlich vorgesehene Verhältnis von Regel und Ausnahme würde praktisch in sein Gegenteil verkehrt. Im Ergebnis könnte dies dazu führen, daß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG aF leer läuft. Das zeigt gerade der vorliegende Fall, in dem die Beklagte nach eigenem Vortrag von 13 in der Offsetvorbereitung tätigen Arbeitnehmern zehn Mitarbeiter als "Leistungsträger" angesehen hat. Damit hat die Beklagte alle nicht gekündigten Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl ausgeklammert, eine Sozialauswahl in Wahrheit also nicht vorgenommen. Im Zusammenspiel mit § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 KSchG aF könnte die vom Senat abgelehnte Auffassung also de facto zum Wegfall des individuellen Kündigungsschutzes in den betreffenden Fällen führen. Dies gilt umso mehr, als die betrieblichen Interessen im wesentlichen vom Arbeitgeber vorgegeben werden und der auch vom Landesarbeitsgericht angesetzte Prüfungsmaßstab der "nachvollziehbar vorteilhaften" Weiterbeschäftigung keine ernstliche Schranke darstellt. Eine so weitgehende Absicht kann aber dem Gesetz nicht entnommen werden.
[27] Dies folgt auch nicht aus seiner Entstehungsgeschichte. Die Neufassung sollte zwar den einer Sozialauswahl entgegenstehenden betrieblichen Notwendigkeiten größeres Gewicht geben und das Interesse des Betriebes an der Weiterbeschäftigung eines bestimmten Arbeitnehmers präzisieren (vgl. Begründung Regierungsentwurf BT-Drucks. 13/4612 S 8, 9). Dieses Ziel ist umgesetzt worden mit der Ersetzung der durch "berechtigte betriebliche Bedürfnisse bedingten" Herausnahme durch die "im berechtigten betrieblichen Interesse liegende" Herausnahme der Leistungsträger sowie der Benennung typischer betrieblicher Interessen. Daß darüber hinaus eine grundsätzliche Abkehr von der bis dahin (und jetzt wieder) geltenden Wertung – insbesondere eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses – gewollt war, ist der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen (s. auch Löwisch aaO; Preis aaO; Schwedes aaO).
[28] c) Verstößt somit das Berufungsurteil gegen § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aF, so muß es der Aufhebung unterliegen, weil es sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§§ 563, 564 Abs. 1 ZPO).
[29] d) Der Senat kann die vom Landesarbeitsgericht unterlassene Abwägung zwischen den betrieblichen Interessen an der Weiterbeschäftigung der Mitarbeiterin F. und den sozialen Belangen des Klägers nachholen. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Die tatsächlichen Feststellungen sind getroffen und weitere entgegenstehende Feststellungen sind nicht zu erwarten.
[30] e) Die Würdigung muß auch bei Anwendung des Maßstabs der groben Fehlerhaftigkeit (§ 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG aF) zu Gunsten des Klägers ausgehen. Die sich ergebende Gewichtung der sozialen Belange einerseits und der betrieblichen Interessen andererseits läßt im vorliegenden Fall jede Ausgewogenheit vermissen (vgl. zu diesem Maßstab die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 13/4612 S 8, 9; BAG 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; 2. Dezember 1999 – 2 AZR 757/98 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 45 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 42).
[31] Die Arbeitnehmerin F. war im Zeitpunkt der Kündigung 27 Jahre, der Kläger 41 Jahre alt. Frau F. war unverheiratet und hatte keine Kinder. Der Kläger ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Beschäftigungszeit des Klägers betrug 19 volle Jahre, die von Frau F. acht volle Jahre. Der Unterschied in der Beschäftigungsdauer wird noch deutlicher, wenn man, wie zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat selbst gehandhabt, lediglich die Beschäftigungszeit nach Vollendung des 25. Lebensjahres berücksichtigt. Dann betrug nämlich die Beschäftigungszeit von Frau F. lediglich etwa eineinhalb Jahre, die des Klägers jedoch über 16 Jahre. Daß der Kläger bei Betrachtung dieser Daten in jeder Hinsicht eklatant schutzbedürftiger war als Frau F., liegt auf der Hand. Demgegenüber hat die Beklagte als betriebliches Interesse im wesentlichen nur die druckspezifische Ausbildung der Frau F. genannt. Zu der Frage, ob und inwiefern diese Ausbildung dem Betrieb konkret von Nutzen sein würde, hat die Beklagte lediglich in allgemeinen Wendungen Stellung genommen. Sie hat ausgeführt, für die von Frau F. ausgeführten Arbeiten bedürfe es "erheblicher Erfahrung, großer Handfertigkeit und umfangreichen theoretischen Wissens" und die zunehmende Verlagerung von Montage-Tätigkeiten auf den Computer verlange (nicht näher bezeichnete) "umfangreiche Kenntnisse … sowie ein fachliches Verständnis der nun nicht mehr sichtbaren Abläufe". Abgesehen davon, daß allein eine druckspezifische Ausbildung kaum in der Lage sein dürfte, mehr Erfahrungen und Handfertigkeit zu vermitteln als eine über beinahe zwei Jahrzehnte währende praktische Tätigkeit, wie sie der Kläger ausgeübt hat, hat die Beklagte weder das theoretische Wissen noch die umfangreichen Kenntnisse irgendwie inhaltlich beschrieben. Somit reduziert sich das von der Beklagten dargetane betriebliche Interesse auf eine vage Erwartung, die druckspezifische Ausbildung werde sich früher oder später einmal als nützlich erweisen. Damit allein ist ein faßbarer Vorteil des Betriebes durch die Weiterbeschäftigung der Frau F gegenüber der des Klägers nicht hinreichend benannt, während das Interesse des Klägers am Erhalt seines Arbeitsplatzes ins Auge springt.
[32] III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.