Bundesarbeitsgericht
Kündigung – Schriftform

BAG, Urteil vom 4. 11. 2004 – 2 AZR 17/04 (lexetius.com/2004,3673)

[1] Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 4. Dezember 2003 – 4 Sa 900/03 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
[2] Tatbestand: Die Parteien streiten im Revisionsverfahren noch über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.
[3] Der Beklagte ist der durch Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 1. Juli 2002 (Aktenzeichen: – 2 IN 225/02 -) über das Vermögen der Firma W GmbH bestellte Insolvenzverwalter. Der Kläger war bei der Insolvenzschuldnerin im Werk W als Holzmechaniker beschäftigt.
[4] Am 15. August 2002 schloss der Beklagte mit den vier Betriebsräten der Produktionswerke und dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich. Dieser sah ua. die Schließung des Werkes W vor. Nach Anhörung des Betriebsrats unterzeichnete der Beklagte am 28. August 2002 die Kündigungsschreiben für 166 Arbeitnehmer.
[5] Die Kündigungsschreiben wurden den Arbeitnehmern vom Betriebsratsvorsitzenden F und vom Betriebsleiter H am 29. August 2002 wie folgt übergeben: Der Betriebsratsvorsitzende F und der Betriebsleiter H hatten einen Stapel mit Originalkündigungsschreiben und einen Stapel mit Kopien der Kündigungsschreiben vor sich. Bei 138 Arbeitnehmern schrieben sie – wie beabsichtigt – auf die Kopie des Kündigungsschreibens handschriftlich "Empfangsbestätigung: 29. Aug. 2002", legten dies dem Arbeitnehmer zur Unterschrift vor und unterschrieben selbst, bevor sie dem Arbeitnehmer das Originalkündigungsschreiben aushändigten. Bei 28 Arbeitnehmern – unter ihnen der Kläger – wurden Original und Kopie irrtümlich vertauscht. Der Betriebsratsvorsitzende F und der Betriebsleiter H setzten den handschriftlichen Vermerk: "Empfangsbestätigung: 29. Aug. 2002" auf das Originalkündigungsschreiben. Nachdem der Betriebsratsvorsitzende F darunter unterschrieben hatte, legte er dem Kläger dieses zur Unterschrift vor. Nach der Unterzeichnung gab dieser das von ihm unterschriebene Originalkündigungsschreiben zurück, der Betriebsleiter H unterzeichnete und dem Kläger wurde die Kopie des Kündigungsschreibens vom 28. August 2002 ausgehändigt.
[6] Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung vom 28. August 2002 sei unwirksam. Die Schriftform (§ 623 BGB) sei nicht eingehalten. Das Original des Kündigungsschreibens sei ihm nicht ordnungsgemäß zugegangen. Es sei zu keinem Zeitpunkt in seinen Herrschaftsbereich gelangt.
[7] Der Kläger, der eine weitere Kündigung vom 29. Oktober 2002 zum 31. Januar 2003 nicht mehr angreift, hat beantragt
[8] festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 28. August 2002 nicht beendet worden ist, sondern bis zum 31. Januar 2003 fortbesteht.
[9] Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
[10] Er hat die Auffassung vertreten, die Schriftform sei gewahrt. Die Originalkündigung sei dem Kläger zugegangen. Für einen wirksamen Zugang sei nicht erforderlich, dass das Original dauerhaft beim Empfänger verbleibe; ausreichend sei, dass der Kläger die Kündigung nach Kenntnisnahme vom Inhalt an den Betriebsratsvorsitzenden F und den Betriebsleiter H zurückgegeben habe. Im Übrigen habe der Kläger sein Recht zur Rüge eines Formmangels verwirkt.
[11] Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Feststellungsantrag hinsichtlich der Kündigung vom 28. August 2002 weiter.
[12] Entscheidungsgründe: Die Revision ist unbegründet.
[13] A. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung wahre die in § 623 BGB vorgeschriebene Form nicht. Das Originalkündigungsschreiben sei dem Kläger nicht zugegangen, weil der Kläger die Verfügungsgewalt über dieses Schriftstück nicht dauerhaft erlangt habe. Jedoch könne sich der Kläger auf die Nichteinhaltung der Form nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht berufen. Für die gewillkürte Schriftform sei anerkannt, dass diese unter besonderen Umständen auch durch Aushändigung einer unbeglaubigten Fotokopie der ordnungsgemäß unterzeichneten Originalurkunde gewahrt werden könne, wenn dem Empfänger in Anwesenheit des Erklärenden eine Fotokopie der Erklärung übergeben werde und eine sofortige Einsicht in das unterschriebene Original möglich sei. Diese Grundsätze seien auf den Fall der gesetzlichen Schriftform zu übertragen, weil die Zwecke der Schriftform, Rechtssicherheit und Übereilungsschutz, gewahrt seien. Die Kündigung sei auch durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und nicht wegen eines Betriebsübergangs erfolgt. Auch die Massenentlassungsanzeige sowie die Betriebsratsanhörung seien ordnungsgemäß erfolgt.
[14] B. Dem folgt der Senat im Ergebnis und teilweise auch in der Begründung.
[15] I. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts wahrt die Kündigung vom 28. August 2002 die in § 623 BGB vorgeschriebene Form.
[16] 1. Nach § 623 BGB, der auch für Kündigungen durch den Insolvenzverwalter gem. § 113 InsO gilt (Stahlhacke/Preis 8. Aufl. 2002 Rn. 153; ErfK/Müller-Glöge 5. Aufl. § 623 BGB Rn. 4; Staudinger/Oetker [2002] § 623 Rn. 9), bedarf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch Kündigung zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Das bedeutet (§ 126 Abs. 1 BGB), dass die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden muss. Das ist hier unstreitig geschehen.
[17] 2. Die Kündigungserklärung des Beklagten ist dem Kläger auch in der vorgeschriebenen Form zugegangen. Der gegenteiligen Annahme des Landesarbeitsgerichts stimmt der Senat nicht zu.
[18] a) Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass eine verkörperte Willenserklärung unter Anwesenden zugeht (und damit entsprechend § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam wird), wenn sie durch Übergabe in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangt (vgl. Senat 9. August 1984 – 2 AZR 400/83 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 12 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 11, zu III 1 c der Gründe; 4. Dezember 1986 – 2 AZR 33/86 –, zu II 3 der Gründe; Reichsgericht 27. Oktober 1905 – VII 7/05RGZ 61, 414, 415; BGH 21. Februar 1996 – IV ZR 297/94NJW-RR 1996, 641; 15. Juni 1998 – II ZR 40/97NJW 1998, 3344; MünchKomm BGB/Einsele 4. Aufl. § 130 Rn. 27; APS/Preis 2. Aufl. § 623 BGB Rn. 16 mwN; Soergel/Hefermehl 13. Aufl. § 130 Rn. 20; Preis/Gotthardt NZA 2000, 348, 351; Müller-Glöge/von Senden AuA 2000, 199, 202).
[19] b) Für den Zugang einer schriftlichen Kündigungserklärung unter Anwesenden ist nicht darauf abzustellen, ob der Empfänger die Verfügungsgewalt über das Schriftstück dauerhaft erlangt hat (vgl. BAG 7. Januar 2004 – 2 AZR 388/03 – RzK I 2c Nr. 36). Soweit das Landesarbeitsgericht auf die Rechtsprechung des Senats (13. Juli 1989 – 2 AZR 571/88 – RzK I 8h Nr. 6) Bezug nimmt, geht es in dieser Entscheidung um den Zugang einer unter Abwesenden abgegebenen Willenserklärung; aus der Entscheidung ergibt sich aber nicht das Erfordernis der Dauerhaftigkeit der Verfügungsgewalt über das Schriftstück.
[20] c) Für den Zugang einer verkörperten Erklärung unter Anwesenden genügen die Aushändigung und Übergabe des Schriftstücks, so dass der Empfänger in der Lage ist, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen (Krüger-Nieland in BGB – RGRK 12. Aufl. § 130 Rn. 32; Erman/Palm BGB 11. Aufl. § 130 Rn. 17; MünchKomm BGB/Einsele 4. Aufl. § 130 Rn. 27). Mit der Übergabe des Schriftstücks ist dem grundsätzlichen Interesse an rechtzeitiger Information, auf dem das Zugangserfordernis beruht, genügt (Larenz/Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts 9. Aufl. § 26 Rn. 11). Das Gesetz will sicherstellen, dass in Fällen einer empfangsbedürftigen Willenserklärung erst mit rechtzeitiger Informationsmöglichkeit des Empfängers die Willenserklärung auch wirksam wird. Für den Zugang eines Schriftstücks unter Anwesenden ist damit ausreichend, wenn dem Adressaten das Schriftstück nur zum Durchlesen überlassen wird, es sei denn, dem Empfänger ist die für ein Verständnis nötige Zeit nicht verblieben (Soergel/Hefermehl 13. Aufl. § 130 Rn. 20).
[21] d) Im vorliegenden Fall hat der Beklagte die Kündigungserklärung in der verkörperten Form des Originalschreibens durch seine Erklärungsboten dem Kläger übergeben. Diese haben die Willenserklärung abgegeben, indem sie dem Kläger das Schreiben zur Unterschrift vorgelegt haben. Sie haben ihre tatsächliche Verfügungsgewalt aufgegeben und der Kläger hat die tatsächliche Verfügungsgewalt über dieses Schreiben erlangt. Er hat darauf den Empfang bestätigt.
[22] e) Das Originalkündigungsschreiben wurde dem Kläger auch so übergeben, dass dieser vom Inhalt Kenntnis nehmen konnte. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass der Kläger Gelegenheit und Zeit gehabt hat, das Kündigungsschreiben zu lesen. Diese Feststellungen wurden von der Revision nicht angegriffen und sind damit für das Revisionsgericht bindend (§ 559 Abs. 2 ZPO). Auch in den Vorinstanzen wurden von den Parteien keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass der Kläger die Empfangsbestätigung "blind" unterschreiben sollte, ohne die Zeit zu haben, lesen zu können, was er unterzeichnete.
[23] f) Ob der Kläger das Originalkündigungsschreiben tatsächlich gelesen hat, ist unerheblich. Für den Zugang genügt es, dass die Erklärung in den Bereich des Empfängers gelangt und dieser die Möglichkeit hat, von ihr Kenntnis zu nehmen. Nimmt er trotz bestehender Möglichkeit keine Kenntnis, geht das zu seinen Lasten (BAG 7. Januar 2004 – 2 AZR 388/03 – RzK I 2c Nr. 36; Lerman/Palm BGB 11. Aufl. § 130 Rn. 5).
[24] 3. Das Schriftstück, das dem Kläger am 29. August 2002 zur Unterzeichnung der Empfangsbestätigung vorgelegt wurde, enthält auch die Willenserklärung einer Kündigung. Allein aus der Tatsache, dass dem Kläger das Kündigungsschreiben mit dem Zusatz "Empfangsbestätigung: 29. Aug. 2002" vorgelegt wurde, ergibt sich nicht, dass das Schriftstück für den Kläger nur noch quittierende Funktion und keine rechtserhebliche Erklärung mehr beinhaltet hätte. Auf dem Originalkündigungsschreiben war lediglich als Zusatz "Empfangsbestätigung" vermerkt. Der Kläger hat dieses Schreiben deshalb so verstehen müssen, dass es neben der rechtserheblichen Erklärung der Kündigung die Bestätigung des Empfangs enthielt.
[25] II. Ob die Annahme des Landesarbeitsgerichts zutrifft, dem Kläger sei die Berufung auf den – in Wahrheit nicht vorhandenen – Formmangel nach § 242 BGB verwehrt, kann demnach dahinstehen. Allerdings sind dem Einwand der Treuwidrigkeit gegenüber der Berufung auf den Formmangel nach der Rechtsprechung des Senats sehr enge Grenzen gesetzt. Insbesondere ist die Berufung auf den Formmangel nicht bereits dann ein Verstoß gegen Treu und Glauben, wenn den Schutzzwecken der Formvorschrift auf andere Weise Genüge getan ist (BAG 16. September 2004 – 2 AZR 659/03 -).
[26] III. Die Kündigung ist, wie das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgeführt hat, nicht wegen Verstoßes gegen § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB unwirksam. Die entsprechende Würdigung des Berufungsgerichts wird auch von der Revision nicht beanstandet.
[27] IV. Die Vorinstanzen sind zu Recht davon ausgegangen, dass die Kündigung vom 28. August 2002 nicht gem. § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam ist. Sie ist nicht sozialwidrig (§ 1 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 KSchG). Auch dies wird von der Revision nicht angegriffen.
[28] V. Der auf die Massenentlassungsanzeige (§ 17 KSchG) des Beklagten ergangene Bescheid des Arbeitsamts Nienburg vom 29. Oktober 2002 legte das Ende der Sperrfrist auf den 25. November 2002 fest und machte damit den Weg für die Entlassung des Klägers zum 30. November 2002 frei. Auch insoweit hat die Revision keine Rügen mehr erhoben.
[29] VI. Die Vorinstanzen sind schließlich zu Recht davon ausgegangen, dass die Kündigung vom 28. August 2002 auch nicht wegen § 102 BetrVG unwirksam ist. Dies wurde von der Revision auch nicht angegriffen.
[30] VII. Die Kündigung des Beklagten vom 28. August 2002 hat das Arbeitsverhältnis damit wirksam zum 30. November 2002 beendet. Die Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Monatsende ergibt sich aus § 113 Abs. 1 InsO (in der vom 1. Januar 1999 bis 31. Dezember 2003 geltenden Fassung).
[31] C. Dem Kläger fallen die Kosten seiner erfolglosen Revision nach § 97 Abs. 1 ZPO zur Last.